Im Gefolge des Demjanjuk-Verfahrens wurden Ermittlungen gegen ehemalige Trawniki-Wachmänner erstmals oder wiederholt aufgenommen. Zu einem dieser Ermittlungsverfahren, geführt von der Zentralstelle im Lande Nordrhein-Westfalen für die Bearbeitung von Nationalsozialistischen Massenverbrechen in Dortmund gegen einen ehemaligen Zugwachmann im Vernichtungslager Bełżec, steuerte ich 2010 ein Sachverständigengutachten bei.86 Kurz darauf eröffnete die Staatsanwaltschaft München ein Ermittlungsverfahren gegen einen ehemaligen ukrainischen Hilfspolizisten wegen der Beteiligung an Verbrechen gegen die jüdischen Einwohner der Stadt Lemberg. Zu diesem Verfahren legte ich ebenfalls ein Sachverständigengutachten vor.87
Das Demjanjuk-Verfahren intensivierte die Forschung über die Trawniki-Männer. Die Historikerin Angelika Benz und der Historiker Lawrene Douglas berichteten über den Prozess.88 Der Historiker Dieter Pohl, der als Sachverständiger an diesem Verfahren mitgewirkt hatte, publizierte einen Aufsatz über die Wachmänner im Vernichtungslager Bełżec.89 Peter Black legte einen weiteren umfangreichen Aufsatz vor, in dem er die Trawniki-Männer, wie vor ihm Rich, als »Foot Soldiers of the Final Solution« bezeichnete.90 Die Historikerin Sara Berger kontextualisierte die Trawniki-Männer in dem Netzwerk von Tätern, das in den Mordanstalten der NS-»Euthanasie«, den Tötungslagern der »Aktion Reinhardt« und deren letzten Ausläufern in Oberitalien Dienst getan hatte.91 Aus einer geschichtswissenschaftlichen Dissertation an der Humboldt-Universität ging Angelika Benz' Monographie über die Trawniki-Männer hervor.92 In der jüngsten Publikation zur »Aktion Reinhardt«, einer Edition von Fotos, die der stellvertretende Kommandant des Vernichtungslagers Sobibór, Johann Niemann, hinterlassen hat, behandelt Martin Cüppers die in Trawniki ausgebildeten Wachmänner in einem eigenen Kapitel, das den gegenwärtigen Forschungs- und Kenntnisstand wiedergibt.93
Die neuere Forschung über die »Trawnikis« betont übereinstimmend die Heterogenität dieser Formation bereits bei der Rekrutierung und die Spannweite ihrer Verhaltensoptionen. Pauschale Bewertungen, etwa der besonderen Grausamkeit dieser Hilfspolizisten oder des Zwangs, unter dem sie gestanden hätten, wurden durch differenzierte Urteile abgelöst. Insoweit scheint es keine wesentlichen Unterschiede zwischen den Trawniki-Männern und den Angehörigen des T 4-Netzwerks in den Lagern der »Aktion Reinhardt« gegeben zu haben. Das erleichtert Vergleiche zwischen Täten und Mittätern, Deutschen und Handlangern, wirft aber die Frage nach der Spezifik der Trawniki-Männer auf. Zudem entsprechen gängige Erklärungen ihres Verhaltens weitgehend dem bereits von Browning hervorgehobenen Faktorenbündel und teilen mit ihm die unzureichende Gewichtung der Einzelfaktoren.94
Für die Beteiligung der ukrainischen Hilfspolizei am Holocaust in der östlichen Ukraine (also im »Reichskommisariat«) hat der Historiker Martin Dean ebenfalls eine weitgehende Übereinstimmung mit den »gewöhnlichen Männern« Brownings konstatiert.95 Die Erforschung der ukrainischen Hilfspolizei ist jedoch hinter der »Trawniki«-Forschung zurückgeblieben.96 Akten sowjetischer Strafverfahren gegen Hilfspolizisten sind nicht im gleichen Umfang in den Westen gelangt wie diejenigen der Wachmänner-Verfahren. Es fehlt bislang auch an einer alle deutschen Besatzungsgebiete umfassenden Monographie über die Hilfspolizei. Den Schwerpunkt neuerer Publikationen bildet die in der gegenwärtigen Ukraine vieldiskutierte Frage, ob die ukrainische Hilfspolizei nur ein willfähriges Organ deutscher Besatzungspolitik war oder als paramilitärischer Arm der rechtsradikalen »Organisation Ukrainischer Nationalisten« eigenständige politische Ziele verfolgte. Auch die Frage nach dem Antisemitismus der OUN und der Hilfspolizei wird intensiv diskutiert.
Generell ist davon auszugehen, dass Vergleiche zwischen gleichartigen Gruppen Gemeinsamkeiten und Unterschiede besser zutage fördern als die isolierte Erforschung einer einzelnen Gruppe. Das vorliegende Buch versteht sich als erster Versuch eines solchen Vergleichs, hier zwischen ukrainischen Hilfspolizisten und Trawniki-Männern im mikrogeschichtlichen Rahmen der Stadt Lemberg und des Vernichtungslagers Bełżec. Beide waren Polizeieinheiten, beide standen mit der deutschen Vernichtungspolitik in enger Verbindung, beide setzten sich mehrheitlich aus Ukrainern zusammen. Andererseits waren die Trawniki-Männer das Produkt weit ausgreifender rassenpolitischer Planungen der SS, was für die Ukrainische Polizei nicht gilt, hatten die Wachmänner einen ungeklärten Rechtsstatus und partizipierten in den Vernichtungslagern direkt am Massenmord.
Auf der Suche nach Vergleichsparametern stößt man auf zwei Studien, die auf je unterschiedliche Weise neue Antworten auf die vieldiskutierte Frage geben, was Menschen zu Tätern macht: Harald Welzers »Täter«-Buch und Stefan Kühls Buch über Organisationen im Holocaust. Die Forschungen des Sozialpsychologen Harald Welzer über den »Referenzrahmen« des Tötungshandelns, hier am Beispiel einer weiteren in Osteuropa operierenden Polizeieinheit, des Reserve-Polizeibataillons 45, waren bahnbrechend.97 Laut Welzer kam es weniger auf individuelle Charaktereigenschaften oder psychische Dispositionen der Massenmörder an als vielmehr auf die kollektiven Moralvorstellungen, die deren Taten als im Sinne der »NS-Moral« notwendig legitimierten, und auf die routinisierenden Praktiken, die das Töten erleichterten. Am Beispiel von Franz Stangl, der das Vernichtungslager Treblinka kommandierte, erläutert Welzer seine These wie folgt:
»Stangl hat keine oder kaum moralische Irritationen durch die ›Arbeit‹ gehabt, die er seiner Auffassung nach zu verrichten hatte – weil er diese in einen Referenzrahmen einordnen konnte, der jenseits seiner Verantwortung lag. […] Die Aufrechterhaltung dieses Selbstbildes wird es gewesen sein, die sichergestellt hat, dass Stangl ob seiner eigentlichen Funktion, die darin bestand, Massen von Menschen dem Tod zuzuführen, eben keinerlei moralische Bedenken befielen: Hier ist eine Aufgabe, die in ein Universum so oder so begründbarer Zwecke einzuordnen ist, dort ist ein Mann, der seine Aufgaben jederzeit pflichtgemäß zu erfüllen bereit ist, der aber daneben auch ›Mensch bleiben‹ will.«98
Stangl und seinesgleichen waren nicht unmoralisch, sondern sie leitete eine partikulare Moralvorstellung, die Ethik der »Volksgemeinschaft«. Demnach war gut, was dem deutschen Volk nützt, und schlecht, was ihm schadete. Als schädlich betrachtete die NS-Moral die Annahme, dass Menschen universale Rechte beanspruchen könnten und die Ausübung der Staatsgewalt durch diese Rechte gebunden sei. Heinrich Himmlers berüchtigtes Diktum, sein schwarzes Korps sei bei der Ausrottung der Juden »anständig geblieben«, entsprach Welzer zufolge von breiten Mehrheiten der Deutschen geteilten Moralvorstellungen.
Welzers Studie hebt die verhängnisvolle Rolle des deutschen Bürgertums hervor. Nicht wenige Intellektuelle, darunter Staatsrechtler wie Carl Schmitt, waren nur allzu bereit gewesen, die universalistische Ethik als wesensfeindliches Herrschaftsinstrument zu denunzieren und den bürgerlichen Wertehimmel von Freiheit und Gleichheit im düsteren Gebräu der »Volksgemeinschaft« versinken zu lassen.99
Die Anwendung dieses Ansatzes auf nichtdeutsche Polizeieinheiten wirft das Problem auf, dass in der Sowjetunion kein Bürgertum im okzidentalen Sinne existierte und die ukrainische Hilfspolizei überwiegend unterbürgerliche Schichten umfasste. Es stellt sich mithin die Frage, in welchem Referenzrahmen sich Trawniki-Männer und Hilfspolizisten bewegten und ob an ihnen eine ähnliche Verschiebung zur Tötungsmoral aufgewiesen werden kann, wie sie die Truppenpolizisten des Reserve-Polizeibataillons 45 vollzogen.
Ähnlich neue Wege beschritt der Soziologe Stefan Kühl in seiner erneuten Auseinandersetzung mit dem von Browning und Goldhagen prominent behandelten Reserve-Polizeibataillon 101.100 Der Bielefelder Luhmann-Schüler interessiert sich nicht für die Moralvorstellungen von Tätern, sondern für die Art und Weise, wie Massengewalt ausübende Organisationen ihre Binnenkommunikation strukturieren, ihre Mitglieder einbinden und bei der Stange halten. Der organisatorische Zusammenhalt beruht demnach auf »Konsensfiktionen« wie dem wirkmächtigen Topos der »Volksgemeinschaft« und namentlich dem Antisemitismus.
Man musste nicht