»Wozu brauchen wir Uhren«, dachte sie, »wenn wir mit den Rhythmen und Mustern der Erde und des Universums verwoben sind?«
Sie verspürte einen Schmerz in ihrem Finger. Sie hatte sich an einem Dorn gestochen, und ein kleiner hellroter Blutstropfen quoll hervor. Die Herrin des Mondes nahm ihre Hand und tupfte mit einem weißen Taschentuch das Blut sorgsam weg. Sie nahm die Rose mit dem dornigen Stängel und umwickelte ihn behutsam mit dem blutigen Taschentuch. Dann küsste sie Eva sanft auf die Wange und lächelte.
»Du wirst noch mehreren meiner Schwestern begegnen, aber erst musst du dich ausruhen.«
Eva wollte schon protestieren und erklären, dass sie gar nicht müde sei, als sie von einer Welle der Lethargie überströmt wurde und sie sich des Gähnens nicht mehr erwehren konnte. Noch immer lächelnd führte sie die Herrin des Mondes zu einem moosbewachsenen Fleck am Fuße einer riesigen Eiche. Eva rollte sich zwischen den Wurzeln zusammen, gab der plötzlichen Müdigkeit nach und ließ zu, dass sich ihre Augen langsam schlossen, wobei sie noch einen Moment innehielt, um die das Mondlicht spiegelnden Brombeerblüten zu betrachten.
Vogelgezwitscher erfüllte die Luft. Eva setzte sich auf und gähnte. Sie fühlte sich erfrischt und glücklich. Sie lehnte sich gegen den Fuß einer hohen Zypresse, die auf einem sandig-goldfarbenen Fels wuchs. Um sie herum erstreckte sich ein mit Pinien, Birken, Zypressen und Olivenbäumen bestandenes Gelände, und in der Ferne konnte sie ein Stückchen tiefblaues Meer erkennen. Eine Hand umfasste plötzlich die ihre, zog Eva hoch und veranlasste sie zu einem leichten Laufschritt. Die Hand gehörte einem griechischen Mädchen, nicht viel älter als sie selbst. Sein lockiges Haar hatte es mit einem Tuch hochgebunden. Seine Haut war rein und glatt, und es hatte schön geformte Gesichtszüge. Es trug eine kurze Tunika aus einem weichen Stoff, die von goldenen Zickzackbändern über der Brust zusammengehalten wurde, und weiche Ledersandalen mit kniehoch geschnürten Riemen. In der anderen Hand hielt es einen kleinen silbernen Bogen, und um seine Schultern schlang sich ein lederner Köcher.
Schließlich wach geworden, passte Eva sich der raschen Gangart des Mädchens an und genoss die Schönheit dieser freien Bewegungen. Als sie so im Sonnenschein dahinrannten, merkte Eva, dass sie nicht ohne Begleitung waren. Aus den Augenwinkeln nahm sie die rennenden Gestalten eines Rehs und eines Hirschs, eines Hasen, einer Wildziege und einer Bärin wahr. Plötzlich brach eine Löwin aus ihrem Versteck hervor, und schloss sich, sich ihrer Geschwindigkeit anpassend, ihrem Lauf durch die Wälder an. Im gesprenkelten Sonnenlicht wurde das lohfarbene Tier zu einem Strahl flüssigen Lichts und in seinen Augen brannte ein goldenes Feuer.
Eva hatte das Gefühl, ewig so dahinrennen zu können, aber schließlich tauchten sie aus den Bäumen auf und kamen an einem grasbedeckten Abhang zum Stehen, der sich in eine staubfarbene Ebene hinabsenkte. Im Hitzeschleier konnte sie eine kleine, das gleißende Sonnenlicht widerspiegelnde Bucht erkennen. Müde, aber nicht erschöpft, setzte sie sich nieder und streckte die Beine aus. Das Mädchen schloss sich ihr an, und die Löwin ließ sich anmutig zu ihren Füßen nieder.
»Ich bin Artemis, die Herrin des Schimmernden Bogens«, sagte das Mädchen und warf den Kopf zurück. »Ich bin eine der Jungfrauengöttinnen.«
Eva sah, dass sie an einem ledernen Halsband einen kleinen geschnitzten Phallus trug.
»Über Jungfrauengöttinnen ist viel geschrieben worden, und viele Erwartungen haben sich mit der Jungfräulichkeit verbunden.« Sie hielt inne, beugte sich herüber und berührte Evas Bauch. »Du bist eine Jungfrau im modernen Sinn des Wortes, während ich eine Jungfrau in einem älteren Sinn bin. Ich bin eine Frau, die nur sich selbst gehört. Ich bin eigenständig, unabhängig und selbstbewusst. Ich feiere das Leben in meinen Handlungen; ich bin ein in mir geeintes vollständiges Wesen. Ich repräsentiere die Zeit, bevor das Ei in den Zyklus entlassen wird. Ich bin nicht gebärfähig und der Schöpfung von Leben nicht anheimgegeben. Ich bin ich selbst, und meine Energien gehören mir.«
Artemis berührte den Phallus an ihrem Halsband und grinste. »Ich bin keine Anhängerin des Zölibats. Ich genieße die Sexualität meines Körpers und bin vollständig, ohne das Bedürfnis nach einer Ehe oder einem Kind zu haben.«
Sie standen auf und machten sich auf den Weg zurück zu den Bäumen.
»Jeden Monat wirst du eine Phase der Wiedergeburt durchlaufen. Nach deiner Blutung wirst du gleichsam wieder jungfräulich. Im alten Griechenland gab es Zeremonien, bei denen die Frauen am Ende ihrer Mondblutung ihr blutiges Leinen wuschen und ihre Wiedergeburt als vollständige und ganzheitliche Frau feierten. Das ist die Zeit, in der du deine Gedanken sammeln, klare Entscheidungen treffen und danach handeln sollst. Du bist voller Selbstvertrauen, bist dir deiner selbst gewiss, dir deines Körpers und seiner Bedürfnisse bewusst. Manche Männer empfinden diese Phase als Bedrohung und betrachten diese Eigenschaften als ›männlich‹, aber sie sind ebenso Teil des Weiblichseins wie die Fürsorglichkeit und das Umsorgen. Sie sind ein Geschenk. Nutze sie gut.«
Eva fühlte es in ihrem Bauch warm werden, während Artemis sprach. Ein Feuer durchlief ihren Körper und weckte in ihr das Bedürfnis, wieder loszurennen. Aber sie hielt inne. »Was geschieht, wenn du älter bist und keinen Zyklus mehr hast?«, fragte sie.
»Dann wirst du wieder wie eine Jungfrau. Das ist die Zeit, in der die Frau ihr Leben betrachten und, wenn sie es nicht schon getan hat, ihren inneren Weg akzeptieren und gehen soll. Ich bin nicht diejenige, die dich dies schon zu lehren hat. Es gibt noch viele Dinge, die du lernen musst, bevor du dieses Lebensstadium erreichst.«
Sie gingen noch ein Weilchen in einträchtigem Schweigen nebeneinander her, aber als Eva sich wieder an die Göttin wenden wollte, fand sie sich allein. Sie blickte sich um und stellte fest, dass nicht nur die Göttin, sondern auch die Wälder und Hügel verschwunden waren. Sie stand nun zwischen den regelmäßigen und gutgepflegten Baumreihen eines Olivenhains. Die Bäume säumten den Rand einer Klippe, und Eva sah, wie das tiefe Blau des Meeres gegen die weißen Felsen anbrandete. Unter den Bäumen kam langsam eine Frau auf sie zu. Eva fragte sich, ob sie wohl eine weitere Schwester der Herrin des Mondes war, und musterte sie sorgfältig.
Die Frau war groß gewachsen und elegant, hatte ausdrucksstarke Gesichtszüge und durchdringende, intelligente Augen. Ihr Haar war zurückgekämmt und mit goldenen Haarnadeln festgesteckt. Im Gegensatz zum weichen Stoffgewand von Artemis trug sie einen Stufenrock aus weißem Leinen und feinem goldenem Tuch, gestärkt durch verschlungene Stickereien und am Rande mit Quasten versehen. Über der Schulter trug sie ein schneeweißes Ziegenfell, das von zwei schlangenköpfigen Spangen zusammengehalten wurde. Auf dieses glatte Fell war ein rotgoldenes Antlitz mit Schlangenhaaren eingestickt, und der Rand war mit goldenen Schlangen verziert. In der rechten Hand trug sie einen langen Speer mit einer bronzenen Spitze, und ihre Füße steckten in einfachen geflochtenen Sandalen.
Die Hitze der Mittagssonne sandte Wellen durch die Luft, und die glanzvolle Dame lud Eva ein, sich zu ihr in den willkommenen Schatten eines kleinen Olivenhains zu gesellen. Unter dem Baum standen ein einfacher Altar und ein steinerner Sitz. Die Dame setzte sich und bedeutete Eva, sich auf dem Boden zu ihren Füßen niederzulassen. Einen Moment lang hielt ihr intensiver Blick Eva in seinem Bann, dann begann sie zu sprechen.
»Ich bin Athene, die ewig jungfräuliche Göttin, das Feuer, das die Weisheit der Frauen erschafft.« Athene nahm Evas Hand.
»Die schöpferischen Energien deines Zyklus sind nicht nur zum Gebären von Kindern da, sondern auch für die Geburt von geistigen Kindern.« Sie berührte Evas Stirn. »Du bringst den Funken des Lebens hervor, du trägst ihn in deinem Körper, nährst ihn und lässt ihn wachsen, bis du ihn zur Welt bringst. Kinder treten aus dem Mutterschoß in diese Welt ein, geistige Kinder gelangen durch deinen Körper, deine Hände und Füße, deine Stimme in diese Welt.« Sie küsste Evas Hände, als wollte sie ihr ihre Ehrerbietung erweisen. »Eine Frau, die keine Kinder hat, ist keine unvollständige oder unnatürliche Frau, ihre Kinder sind ihre Ideen, die sie in sich trägt, und sie gebärt sie durch die Form, die sie ihnen in der materiellen Welt verleiht.«