Die Rote Herrin stieg die drei Stufen zum Thron hinauf. »Du bist eine Frau. Du bist stark, weil du nicht unveränderlich bist, weil die Rhythmen des Wandels die Rhythmen des Universums sind.«
Als die Rote Herrin sich auf dem steinernen Thron niederließ, verwandelte sich ihr Aussehen; die Haut wurde blasser, das Haar heller, die Gesichtszüge sanfter und das Rot des Kleides wurde zu einem mondigen Blau. Ohne allzu überrascht zu sein, erkannte Eva die vertraute Gestalt der Herrin des Mondes.
»Ja«, antwortete die Herrin des Mondes auf Evas unausgesprochene Frage, »wir sind ein und dieselbe, haben aber unsere verschiedenen Zeiten. Während des Monats bin ich teils Herrin des Mondes, teils Rote Herrin, aber nur zu den Wendezeiten der Menstruation und des Eisprungs bin ich ganz die eine oder die andere.« Sie stand auf, stieg die Stufen hinab und bedeutete Eva, sich auf den Thron zu setzen. »Hab keine Angst«, sagte sie.
Zögernd stieg Eva die Stufen hinauf und ließ sich auf dem roten Kissen nieder. Trotz ihres gewachsenen und vertieften Bewusstseins und Verstehens war sie doch noch angespannt und saß gerade und aufrecht. Ihre Augen suchten den Blick der Herrin des Mondes. Sie merkte, wie sich ihr reines weißes Gewand allmählich veränderte. Der Saum färbte sich zartrosa, wurde dann leuchtend rot, und die Farbe stieg hoch, bis sie das ganze Kleidungsstück erfasst hatte. Innerhalb von Sekunden war Eva nun in ein blutrotes Gewand gehüllt. Plötzlich überkam sie ein Gefühl der Losgelöstheit, und sie wandte ihre Aufmerksamkeit von dem Raum und ihrer unmittelbaren Umgebung ab. Tief im Innern der sie begrüßenden Dunkelheit wurde sie sich des Spinnennetzes bewusst, dessen Fäden sie mit der großen schwarzen Göttin verbanden. In der Tiefe ihrer selbst glaubte Eva ihre Stimme zu hören:
»Ich existiere unsichtbar in allen Dingen. Ich bin das Potenzial, die Dunkelheit des Schoßes vor der Wiedergeburt.«
Als Eva sich wieder ihrer Umwelt bewusst wurde, stand die Herrin des Mondes neben ihr. Das Bedürfnis, zu bleiben, und das Verlangen, sich nicht zu regen, waren stark. Die Herrin des Mondes half Eva auf die Füße, aber es war die Rote Herrin, die sie die Stufen hinuntergeleitete und zu einem kleinen Alkoven in der Wand führte. Eva kletterte hinauf auf eine schmale Liege, die mit weichen, dicken Fellen bedeckt war, und lag still im entschwindenden Licht und spürte, wie ihr die Fähigkeit, zu sprechen oder noch weiter nachzudenken, entglitt. Die Rote Herrin deckte sie mit einem Fell zu.
»Schlaf den Rest dieser Nacht hier im geschützten Bauch der Erde. Erinnere dich an deine Träume, vergiss nicht die, denen du begegnet bist.«
Sie beugte sich hinunter, küsste Eva und sah zu, wie sich Evas Augen schlossen und sich die ganze Szene in Dunkelheit auflöste. In der Wärme des Schlafes lächelte Eva, als sie eine entschwindende Stimme rufen hörte: »Erinnere dich, erinnere dich.«
Sonnenlicht strömte durchs Fenster, fiel auf Evas Gesicht und küsste sie sanft wach. Sie fühlte sich entspannt und friedlich, lag still unter der Bettdecke und wünschte, den ganzen Tag so bleiben zu können. Von irgendwo aus dem Innern blühten die Träume der Nacht in Evas allmählich erwachendem Bewusstsein auf. Im Tageslicht waren die Menschen und Orte, die Eva besucht hatte, und die so lebendig und real erschienen, nun verschwommen und weit weg, doch in Eva blieb ein Gefühl des Friedens und Verstehens und der Ahnung von einem Versprechen, das sich bald erfüllen würde, zurück.
Die vertrauten Geräusche der restlichen Familie, die gerade aufstand, störten Eva auf. Als sie ihren Körper bewegte, fühlte sie ein unkontrollierbares warmes Tröpfeln zwischen ihren Beinen. Rasch schnappte sie sich ein paar Papiertaschentücher von ihrem Nachttisch und tupfte die Feuchtigkeit ab. Als sie die Taschentücher wieder hervorzog, entdeckte sie, dass sie voller frischer roter Blutflecken waren. In diesem Moment betrat Evas Mutter das Zimmer und sah die blutigen Taschentücher. Eva erklärte ihrer geängstigten Mutter rasch, woher das Blut gekommen war. Diese verschwand mit leicht amüsiertem Blick und kehrte nach ein paar Augenblicken mit einer Handvoll Binden zurück, die sie der fragend blickenden Eva überreichte.
»Ich wusste, dass es bald fällig war«, erklärte sie. Sie lächelte und ließ sich neben Eva auf der Bettkante nieder. Sie zog ihre Tochter zu sich heran und umarmte sie mit Tränen in den Augen liebevoll. »Mein Kind wird zu einer Frau«, flüsterte sie.
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