Nur in einer Hinsicht traf dies eindeutig nicht zu: Die Globalisierung der Wirtschaft schien in den Zwischenkriegsjahren nicht weiter voranzukommen. Welchen Maßstab wir auch dafür ansetzen, die Integration der Weltwirtschaft stagnierte oder war sogar rückläufig. Die Vorkriegsjahre hatten die größte Massenmigrationswelle hervorgebracht, die es in der uns bekannten Geschichte bislang gegeben hatte; nun trockneten diese Ströme aus oder waren durch die Kriegsunterbrechungen und politische Restriktionen eingedämmt worden. In den letzten fünfzehn Jahren vor 1914 waren beinahe 15 Millionen Menschen an den Ufern der Vereinigten Staaten gelandet. In den nächsten fünfzehn Jahren verringerte sich dieser Strom auf fünfeinhalb Millionen; und in den dreißiger Jahren und während der Kriegszeit versiegte er beinahe völlig: Nur noch knapp eine dreiviertel Million Menschen erreichte die Vereinigten Staaten.3 Die iberische Migration, die sich in überwältigendem Maße nach Lateinamerika richtete, ging von eindreiviertel Millionen in der Zeit von 1911–20 auf weniger als eine Viertelmillion in den dreißiger Jahren zurück.4 Der Welthandel erholte sich zwar von den Unterbrechungen durch Krieg und Nachkriegskrise und konnte in den späten zwanziger Jahren auf etwas über den Stand von 1913 ansteigen, fiel dann aber während der Weltwirtschaftskrise wieder ab und hatte am Ende des Zeitalters der Katastrophe (1948) kein signifikant größeres Volumen als vor dem Ersten Weltkrieg.5 Zwischen den frühen 1890er Jahren und 1913 hatte er sich mehr als verdoppelt gehabt. Zwischen 1948 und 1971 sollte er sich verfünffachen. Diese Stagnation ist noch überraschender, wenn wir uns ins Gedächtnis rufen, daß der Erste Weltkrieg eine beachtliche Anzahl von neuen Staaten in Europa und im Nahen Osten hervorgebracht hat. Bei derart vielen Kilometern neuer Staatsgrenzen hätte man annehmen können, daß auch der zwischenstaatliche Handel automatisch zunehmen würde, da ja jene kommerziellen Transaktionen, die bislang innerhalb eines Staates stattgefunden hatten (also beispielsweise innerhalb von Österreich-Ungarn oder Rußland), nunmehr dem internationalen Handel zugerechnet wurden. (Welthandelsstatistiken umfassen nur den Handel, der über Grenzen hinweg betrieben wird.) Auch die tragische Flüchtlingsflut nach Krieg und Revolution, die bereits zu diesem Zeitpunkt schon Millionen umfaßte (siehe Elftes Kapitel), hätte prinzipiell die globale Migration vergrößern müssen. Während der Weltwirtschaftskrise schien sogar der internationale Kapitalstrom auszutrocknen. Zwischen 1927 und 1933 gingen die internationalen Kapitalanleihen um über 90 Prozent zurück (Hill, 1988, S. 87).
Warum diese Stagnation? Es wurden verschiedene Gründe dafür angegeben, darunter auch, daß die größte aller Volkswirtschaften in der Welt, die USA, effektiv autark zu werden begann, einmal abgesehen von einem Teil ihrer Rohstoffversorgung (aber sie war noch nie besonders vom Außenhandel abhängig gewesen). Doch dieser Trend sollte sich auch in Staaten zeigen, die bislang stark vom Handel abhängig gewesen waren, wie Großbritannien und Skandinavien. Zeitzeugen konzentrierten sich allerdings eher und zu Recht auf einen anderen alarmierenden Umstand: Jeder Staat wollte nun alles tun, um seine Wirtschaft gegen die Bedrohungen von außen zu schützen, also gegen eine Weltwirtschaft, die ersichtlich in große Schwierigkeiten geraten war.
Unternehmer hatten genauso wie Regierungen ursprünglich gehofft, daß die Weltwirtschaft nach der temporären Unterbrechung durch den Weltkrieg irgendwie wieder zu den glücklichen Zeiten der Jahre vor 1914 zurückkehren würde, also in den von ihnen als »normal« empfundenen Zustand. Und in der Tat sah der unmittelbare Nachkriegsboom vielversprechend aus, zumindest in den Staaten, die nicht von Revolution und Bürgerkrieg zerstört worden waren – obwohl Unternehmer wie Regierungen besorgt vor der enorm gewachsenen Macht der Arbeiterschaft und ihrer Gewerkschaften standen, die mit großer Wahrscheinlichkeit durch höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten die Produktionskosten in die Höhe treiben würde. Aber die Wiederanpassung erwies sich schwieriger als erwartet. 1920 brachen Boom und Preise zusammen, was nicht nur die Macht der Arbeiterschaft unterminierte (die Arbeitslosenrate in Großbritannien fiel niemals wieder unter 10 Prozent, und während der kommenden zwölf Jahre sollten die Gewerkschaften die Hälfte ihrer Mitglieder verlieren), sondern die Lage tatsächlich zugunsten der Arbeitgeber umschwenken sollte. Doch die Hochkonjunktur ließ auf sich warten.
Die angelsächsische Welt, die Neutralen der Kriegszeit und Japan taten alles Mögliche, um eine Deflation durchzuführen, um also ihre Ökonomien zu den alten und festen Prinzipien der Währungsstabilität zurückzuführen, garantiert durch solide Finanzierungen und durch einen Goldstandard, der dem Druck des Krieges nicht hatte standhalten können. Zwischen 1922 und 1926 sollte ihnen das auch tatsächlich mehr oder weniger gelingen. Doch die große, durch Niederlage und Revolution geschwächte Zone von Deutschland im Westen bis Sowjetrußland im Osten sah sich einem spektakulären Zusammenbruch der monetären Systeme ausgesetzt, vergleichbar nur dem in einem Teil der postkommunistischen Welt nach 1989. Im Extremfall, wie in Deutschland 1923, wurde die Währungseinheit auf das Millionstel einer Million ihres Werts von 1913 reduziert, was praktisch bedeutete, daß der Geldwert bei Null angekommen war. Selbst in weniger extremen Fällen waren die Konsequenzen drastisch. Der Großvater des Autors, dessen Versicherungspolice während der österreichischen Inflation fällig geworden war6, erzählte gern die Geschichte, wie er die große Summe in abgewerteter Währung abhob und feststellte, daß sie gerade ausreichte, um sich in seinem Stammcafé ein Getränk bestellen zu können.
Kurz und gut, private Ersparnisse verschwanden völlig und hinterließen ein fast vollständiges Vakuum im Betriebskapital der Unternehmen – womit auch recht gut erklärt ist, weshalb sich die deutsche Wirtschaft in den folgenden Jahren so massiv auf Auslandsanleihen stützte und weshalb Deutschland bei Beginn der Weltwirtschaftskrise auch so besonders verwundbar gewesen war. Die Lage in der Sowjetunion war kaum besser, obgleich die Auslöschung sämtlicher privater Sparguthaben dort weder die gleichen wirtschaftlichen noch die gleichen politischen Folgen haben konnte. Als die große Inflation 1922–23 unter Kontrolle gebracht wurde – im wesentlichen durch Regierungsentscheidungen, Papiergeld nicht mehr in unbegrenzter Menge zu drucken und die Währungseinheiten zu ändern –, war es aus mit den Deutschen, die sich auf feste Einkommen und Ersparnisse verlassen hatten, obwohl in Polen, Ungarn und Österreich zumindest ein kleiner Teil des Geldwerts noch gerettet werden konnte. Welchen traumatischen Effekt dies auf die regionalen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten haben mußte, ist leicht vorstellbar. Die Inflation machte Mitteleuropa für den Faschismus reif. Denn Verfahren, um die Bevölkerung an lange Perioden pathologischer Inflationen zu gewöhnen (beispielsweise durch die »Indexierung« von Löhnen und anderen Einkommen – dieser Begriff tauchte erstmals um 1960 auf), wurden erst nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckt.7
1924 waren diese Nachkriegsorkane dann abgeflaut, und es schien wieder möglich, zur »Normalität« zurückzukehren, wie es ein amerikanischer Präsident genannt hatte. Und in der Tat ging es mit der Weltwirtschaft wieder aufwärts, obwohl es bei Rohstoff- und Nahrungsmittelproduzenten, darunter besonders den nordamerikanischen Farmern, Probleme gab, da die betreffenden Preise nach einer kurzen Erholungsphase wieder zu sinken begannen.