Zweitens führte der Guerillaweg zur Macht unweigerlich aus den Städten und Industriezentren, wo die sozialistischen Arbeiterbewegungen traditionell am stärksten waren, hinaus ins Hinterland. Guerillakrieg braucht den Dschungel, Berge, Wälder und ähnliches Terrain und setzt sich daher in dünnbesiedelten Gebieten weit abseits der Ballungszentren fest. Mit Maos Worten heißt das: Das Land muß die Stadt umzingeln, bevor es sie erobern kann. Für den europäischen Widerstand bedeutete das: Der Aufstand der Stadt – wie z.B. im Sommer 1944 in Paris, im Frühling 1945 in Mailand – mußte warten, bis der Krieg praktisch schon zu Ende war, ob ganz oder auf dem lokalen Kriegsschauplatz. Dem verfrühten Aufstand 1944 in Warschau folgte das Strafgericht auf dem Fuß: Die Stadt hatte nur eine, wenn auch große Granate abzuschießen. Sie hatte keine Reserven. Die Entscheidung für den Guerillaweg bedeutete also selbst in einem revolutionären Land für den größten Teil der Bevölkerung eine lange Zeit des relativ untätigen Wartens auf Veränderungen, die andernorts erkämpft wurden; und die tatsächlich involvierten Widerstandskämpfer, einschließlich ihrer gesamten Infrastruktur, blieben unvermeidlich auf eine relativ kleine Minderheit beschränkt.
In ihren Territorien konnte die Guerilla natürlich nicht ohne den Rückhalt der Massen agieren; nicht zuletzt, weil sie ihre Kämpfer in den lang anhaltenden Konflikten mehr oder weniger nur lokal rekrutieren konnte. So wurden die Parteien der Industriearbeiter und Intellektuellen (wie in China) stillschweigend zu Armeen ehemaliger Bauern umgewandelt. Doch deren Beziehungen zu den Massen waren bei weitem nicht so einfach, wie Maos Bild vom Partisan suggerieren wollte, der wie ein Fisch im Wasser des Volkes schwimmt. Im typischen Guerillagebiet konnte sich im Grunde jede Gruppe von Außenseitern oder Gesetzlosen, die sich den örtlichen Verhaltensregeln anzupassen wußte, der Sympathie und grundsätzlichen Unterstützung der Bevölkerung gegen fremde Soldaten oder die Streitmächte der Nationalregierung sicher sein. Nur, im Hinterland gab es tiefverwurzelte Fehden; und die konnten jederzeit bedeuten, daß der Zugewinn von neuen Freunden automatisch mit dem Risiko neuer Feindschaften verbunden war. Die chinesischen Kommunisten, die in der Zeit von 1927–28 ihre ländlichen Rätegebiete etablierten, hätten nicht davon überrascht sein dürfen, daß die Konversion eines von einem bestimmten Clan beherrschten Dorfes zwar ein Netzwerk von »roten Dörfern« unter der Herrschaft befreundeter Clans entwickeln konnte, diese Dörfer dann aber unweigerlich in Kriege gegen ihre traditionellen Feinde verstrickte, welche nun wiederum ein ähnliches Netzwerk aus »schwarzen Dörfern« errichtet hatten. »In manchen Fällen«, so reklamierten die Kommunisten, »wurde der Klassenkampf zu einem Kampf des einen Dorfes gegen das andere. Es gab Fälle, in denen unsere Truppen erst ganze Dörfer belagern und zerstören mußten« (Manfred Hinz, 1973, S. 45–46). Mancher erfolgreiche Guerillakämpfer lernte zwar, sicher über solch trügerische Wasser zu steuern, aber, wie auch Milovan Djilas’ Memoiren aus dem jugoslawischen Partisanenkrieg zeigten: Befreiung war eine weit komplexere Angelegenheit als nur der einmütige Aufstand eines unterdrückten Volkes gegen fremde Eroberer.
7
Solche Überlegungen dürften die Zufriedenheit der Kommunisten kaum getrübt haben, als sie 1945 feststellen konnten, daß sie alle Regierungsgewalt zwischen der Elbe und dem Chinesischen Meer in Händen hielten. Ihrem Ziel – der Weltrevolution – waren sie sichtbar näher gekommen. Anstelle einer vereinzelten, schwachen und isolierten Sowjetunion waren etwa ein Dutzend Staaten aus der zweiten großen Welle der Weltrevolution aufgetaucht (oder gerade dabei, aufzutauchen), die von einer der beiden Weltmächte geführt wurden, die diesen Namen überhaupt verdienten. (Der Begriff »Supermacht« findet sich übrigens bereits in Unterlagen von 1944.) Und dabei war der Impetus der Weltrevolution noch immer nicht erschöpft, denn die Dekolonisation der alten imperialen Besitztümer in Übersee war noch in vollem Gang. Konnte man von ihr nicht noch weitere Fortschritte des Kommunismus erwarten? War nicht das internationale Bürgertum selbst – zumindest in Europa – voller Sorge um die Zukunft dessen, was vom Kapitalismus noch geblieben war? Die Verwandten eines jungen französischen Historikers – Industrielle, die gerade dabei waren, ihre Fabriken wiederaufzubauen – haben sich gefragt, ob am Ende nicht doch eine Verstaatlichung, oder ganz einfach die Rote Armee, die endgültige Lösung ihrer Probleme sein würde. Als älterer Konservativer erinnerte sich dieser Historiker, daß ihn nicht zuletzt solche Gefühle darin bestärkt hätten, 1949 der Kommunistischen Partei Frankreichs beizutreten (Ladurie, 1982, S. 37). Und hat nicht ein amerikanischer Handelsstaatssekretär im März 1947 Trumans Administration davon zu überzeugen versucht, daß die meisten Länder Europas »am Rande des Abgrunds stehen und jederzeit abstürzen können, während die anderen aufs schwerste bedroht sind« (Loth, 1988, S. 137)?
Das waren auch die Überlegungen derjenigen Männer und Frauen, die aus dem Untergrund auftauchten, aus den Kämpfen des Widerstands, aus Gefängnissen, Konzentrationslagern, oder aus dem Exil zurückkehrten, um Verantwortung für die Zukunft von Staaten zu übernehmen, die zumeist in Trümmern lagen. Es mag wohl vielen von ihnen bewußt gewesen sein, daß der Kapitalismus schon immer dort am einfachsten zu überwinden war, wo er schwach oder überhaupt kaum entwickelt war, und nicht in seinen Kernländern. Doch wer hätte damals schon bestreiten können, daß sich die Welt bereits dramatisch nach links bewegt hatte? Wenn sich die kommunistischen Herrscher und ihre Mitherrscher in den bereits transformierten Staaten unmittelbar nach dem Krieg überhaupt über irgendwas Sorgen machten, dann sicher nicht über die Zukunft des Sozialismus. Ihnen ging es erst einmal darum, verarmte, erschöpfte und ruinierte Länder mit manchmal durchaus feindselig gesinnter Bevölkerung wiederaufzubauen und die Gefahr eines Krieges abzuwehren, den die kapitalistischen Mächte gegen das sozialistische Lager führen könnten, bevor es durch einen gelungenen Wiederaufbau vollends etabliert wäre. Paradoxerweise aber waren westliche Politiker und Ideologen von denselben Ängsten geplagt. Wir werden noch sehen, daß der Kalte Krieg, der nach der zweiten Welle der Weltrevolution die Welt überzog, vor allem zum Wettkampf zwischen Alpträumen geraten sollte. Ob nun die Ängste des Ostens oder die des Westens gerechtfertigt waren – beide gehörten jedenfalls jener Ära der Weltrevolution an, die mit dem Oktober 1917 begonnen hatte. Doch diese Ära ging bald zu Ende, wenn es auch noch vierzig Jahre dauern sollte, bis es möglich war, ihr eine Inschrift in den Grabstein zu meißeln.
Dennoch hat diese Revolution die Welt verändert. Allerdings nicht auf die Weise, die Lenin und all jene, die durch die Oktoberrevolution inspiriert worden waren, erwartet hatten. Außerhalb der westlichen Hemisphäre genügen die Finger zweier Hände, um die Staaten aufzuzählen, die nicht irgendeine Kombination aus Revolution, Bürgerkrieg, Widerstand gegen und Befreiung von fremder Besatzung oder die prophylaktische Dekolonisation von Imperien durchlebt haben. Die Imperien selbst waren seit der Ära der Weltrevolution dem Untergang geweiht. (Großbritannien, Schweden, die Schweiz und vielleicht noch Island sind die einzigen Fälle in Europa, auf die dies nicht zutrifft.) Und selbst in der westlichen Hemisphäre – sieht man einmal von den vielen gewaltsamen Umstürzen ab, die vor Ort immer als »Revolutionen« dargestellt werden – haben große Sozialrevolutionen zumindest die lateinamerikanische Szene transformiert (Mexiko, Bolivien, die kubanische Revolution und ihre Nachfolger).
Die tatsächlichen Revolutionen, die im Namen des Kommunismus stattfanden, haben sich selbst erschöpft, wenn es auch noch zu früh scheint, ihnen eine Grabrede zu halten (jedenfalls solange Chinesen – ein Fünftel der Menschheit – noch in einem Land leben, das von einer Kommunistischen Partei regiert wird). Doch eine Rückkehr zu den anciens régimes der Welt scheint heute ebenso unmöglich wie einst die Rückkehr Frankreichs nach der revolutionären und Napoleonischen Ära in seinen alten Zustand oder wie die Rückkehr von Exkolonien zum präkolonialen Leben. Selbst dort, wo nach der Erfahrung des Kommunismus eine Umkehr stattgefunden hat, wird die Präsenz von exkommunistischen Staaten und vermutlich auch deren Zukunft von den spezifischen Merkmalen der Konterrevolution geprägt sein, die überall begonnen hat, die Revolution zu ersetzen. Aber das sowjetische Zeitalter ist weder aus der russischen noch aus der Weltgeschichte zu tilgen, so als hätte es nie stattgefunden. Es gibt keinen Weg für St. Petersburg, in die Zeiten von 1914 zurückzukehren.
Die indirekten Folgen aus dem Zeitalter der Aufstände nach 1917 waren ebenso tiefgreifend wie die direkten. Die Jahre nach der Russischen Revolution haben den Prozeß der kolonialen Emanzipation und der Dekolonisation eröffnet und