Die Geschichte des Kurzen 20. Jahrhunderts kann ohne die Russische Revolution und ihre direkten wie indirekten Folgen nicht erklärt werden. Und das nicht zuletzt, weil sie sich als Retter des liberalen Kapitalismus erweisen sollte: Sie sollte es dem Westen ermöglichen, den Zweiten Weltkrieg gegen Hitlers Deutschland zu gewinnen; sie sollte dem Kapitalismus den Anstoß geben, sich selbst zu reformieren; und weil sich die Sowjetunion paradoxerweise gegen die Große Depression immun zeigte, sollte sie auch den Anstoß dazu geben, den orthodoxen Glauben an die freie Marktwirtschaft zu revidieren. Doch das führt uns ins nächste Kapitel.
Drittes Kapitel
In den wirtschaftlichen Abgrund
Kein Kongreß der Vereinigten Staaten, der sich je zur Feststellung der Lage der Nation versammelt hat, ist mit angenehmeren Aussichten zusammengekommen als der, der sich gegenwärtig hier einfindet … Der große Wohlstand, der von unseren Unternehmen und unserer Industrie geschaffen und von unserer Wirtschaft bewahrt wurde, hat eine größtmögliche Verteilung unter unserem Volk gefunden und ist in einem ständigen Strom nach außen geflossen, um der Wohlfahrt und den Geschäften der Welt zu dienen. Die existentiellen Grundbedürfnisse haben sich vom Standard des Notwendigen in den Bereich des Luxus bewegt. Wachsende Güterproduktion wird von zunehmender Nachfrage zu Hause und expandierendem Kommerz im Ausland konsumiert. Das Land kann die Gegenwart mit Zufriedenheit betrachten und der Zukunft mit Optimismus entgegensehen.
Präsident Calvin Coolidge, Message to Congress, 4. Dezember 1928
Neben dem Krieg ist Arbeitslosigkeit die weitverbreitetste, heimtückischste und zersetzendste Krankheit unserer Generation gewesen: die soziale Seuche, die typisch für die westliche Zivilisation von heute ist.
The Times, 23. Januar 1943
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Angenommen, der Erste Weltkrieg wäre lediglich ein zwar katastrophaler, aber nur temporärer Bruch in einer sonst stabilen Wirtschaft und Zivilisation gewesen: In diesem Fall hätte sich die Wirtschaft nach Beseitigung der Kriegsschäden wieder normalisiert und wäre ganz einfach wieder zur Tagesordnung geschritten. So wie beispielsweise Japan 1923 die 300000 Toten eines Erdbebens begrub, die Trümmer aufräumte (die zwei bis drei Millionen Obdachlose hinterlassen hatten) und eine Stadt wieder genauso aufbaute, wie sie zuvor gewesen war – nur diesmal ein wenig erdbebensicherer. Wie hätte die Zwischenkriegsgesellschaft unter diesen Umständen ausgesehen? Wir wissen es nicht, und es wäre auch sinnlos, über etwas zu spekulieren, das nicht geschehen ist und mit ziemlicher Sicherheit so auch nicht hatte geschehen können. Trotzdem ist diese Frage nicht völlig sinnlos, denn sie hilft uns, die tiefgreifenden Auswirkungen des Zusammenbruchs der Weltwirtschaft zwischen den Kriegen auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts zu verstehen.
Ohne diesen Zusammenbruch hätte es mit Sicherheit keinen Hitler und mit ziemlicher Sicherheit auch keinen Roosevelt gegeben. Es wäre auch äußerst unwahrscheinlich gewesen, daß das sowjetische System in diesem Fall als ernsthafter wirtschaftlicher Rivale und als Alternative zum Weltkapitalismus angesehen worden wäre. Auch die Konsequenzen der Wirtschaftskrise in der außereuropäischen oder nichtwestlichen Welt, auf die wir später zurückkommen, waren offensichtlich tiefgreifend. Kurzum, die Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wäre nicht zu verstehen, sähe man nicht die Auswirkungen des wirtschaftlichen Zusammenbruchs. Sie sollen Thema dieses Kapitels sein.
Der Erste Weltkrieg hatte nur Teile und vor allem europäische Gebiete der Alten Welt verwüstet. Die Weltrevolution, dramatischster Aspekt des Zusammenbruchs der bürgerlichen Zivilisation des 19. Jahrhunderts, breitete sich bereits viel weiter aus: von Mexiko bis China und, in Gestalt von kolonialen Befreiungsbewegungen, vom Maghreb bis nach Indonesien. Aber es wäre noch immer ein leichtes gewesen, Regionen auf dem Globus zu finden, deren Bewohner von beiden unberührt geblieben waren, darunter besonders die Vereinigten Staaten von Amerika und weite Teile im subsaharischen Kolonialafrika. Der Zusammenbruch, der dem Ersten Weltkrieg folgte, sollte sich hingegen über die ganze Welt ausbreiten; zumindest überall dorthin, wo Männer und Frauen mit marktwirtschaftlichen Transaktionen beschäftigt oder von ihnen abhängig waren. Und die stolzen USA waren nun ganz und gar kein sicherer Hafen vor den Konvulsionen der weniger glücklichen Kontinente, sondern wurden zum Epizentrum des größten globalen Erdbebens, das jemals auf der wirtschaftsgeschichtlichen Richterskala gemessen wurde: die Große Wirtschaftskrise der Zwischenkriegsjahre. Die kapitalistische Weltwirtschaft schien zwischen den Kriegen völlig zusammenzubrechen. Und niemand wußte, wie sie sich wieder erholen könnte.
Die Operationen einer kapitalistischen Wirtschaft laufen niemals sanft ab, und Fluktuationen von unterschiedlicher Dauer und bisweilen großer Heftigkeit sind integraler Bestandteil dieser Methode, die Angelegenheiten der Welt zu regeln. Der sogenannte »Konjunkturzyklus« von Aufschwung und Depression war schon im 19. Jahrhundert Unternehmern aller Couleur vertraut, wobei man davon ausging, daß er sich in Variationen, aber regelmäßig alle sieben bis elf Jahre wiederholen würde. Erstmals Ende des 19. Jahrhunderts, als man auf die unerwarteten Peripetien der vorangegangenen Jahrzehnte zurückblicken konnte, begann man auch auf eine etwas längere Periodizität aufmerksam zu werden: auf einen spektakulären und alle Rekorde brechenden weltweiten Boom zwischen etwa 1850 und den frühen 1870er Jahren, auf den ungefähr zwanzig Jahre wirtschaftlicher Verunsicherung gefolgt waren (Wirtschaftsexperten sprachen schon damals etwas irreführend von einer »Großen Depression«), bevor wieder eine weltwirtschaftliche Jahrhundertwelle losbrach (siehe Die Blütezeit des Kapitals; Das imperiale Zeitalter). In den frühen zwanziger Jahren entdeckte dann der russische Ökonom N. D. Kondratjew, eines der frühen Opfer Stalins, ein seit dem späten 18. Jahrhundert sichtbar gewordenes ökonomisches Entwicklungsmuster aus einer Serie von »langen Wellen«, die zwischen fünfzig bis sechzig Jahren andauerten. Doch er war genausowenig wie irgendein anderer in der Lage, eine zufriedenstellende Erklärung für diese Bewegungen zu finden, weshalb skeptische Statistiker ihre Existenz auch schlichtweg abstreiten sollten. Unter seinem Namen tauchen sie seither als allgemein gebräuchlicher Begriff in der Fachliteratur auf. Übrigens war Kondratjew damals zu dem Schluß gekommen, daß die lange Welle der Weltwirtschaft vor ihrer Flaute stand.1 Er sollte recht behalten.
In der Vergangenheit hatten Unternehmer und Ökonomen Wellen und Zyklen, ob lang, kurz oder mittelfristig, genauso akzeptiert, wie sich Bauern in das Wetter fügen, wo es auch auf und ab geht. Gegen sie war man machtlos: Sie boten Chancen oder schufen Probleme, sie konnten Individuen oder Industrien zu Goldgruben machen oder in den Bankrott führen. Doch nur Sozialisten glaubten mit Karl Marx, daß Zyklen Teil des kapitalistischen Prozesses seien, der innere und am Ende unüberwindliche Widersprüche erzeugte, und waren daher davon überzeugt, daß diese Zyklen die Existenz des Wirtschaftssystems an sich gefährden würden. Doch wie konnte man bezweifeln, daß der Fortschritt und das enorme Wachstum der Weltwirtschaft andauern würden wie nun seit mehr als einem Jahrhundert, unterbrochen höchstens von den plötzlichen und kurzfristigen Katastrophen der zyklischen Tiefs? Völlig anders an dieser neuen Situation war jedoch, daß die Fluktuationen des Kapitalismus zum wahrscheinlich ersten und bis dahin auch einzigen Mal in seiner Geschichte das System wirklich von Grund auf zu gefährden schienen. Und hinzu kam, daß der säkulare Anstieg der Kurve in vielen wichtigen Aspekten abzufallen drohte.
Die Geschichte der Weltwirtschaft seit der industriellen Revolution ist die Geschichte eines immer schnelleren technologischen Fortschritts, eines ständigen, wenn auch ungleichen Wirtschaftswachstums und einer zunehmenden