Die Anzahl der Soldaten jener notwendigerweise skrupellosen und disziplinierten Armee zur Emanzipation der Menschheit belief sich auf nur wenige zehntausend; die internationalen Berufsrevolutionäre, die ihre Länder öfter als ihre Schuhe wechselten, wie Bertolt Brecht in einem Gedicht schrieb, zählten insgesamt nicht mehr als ein paar hundert – nicht zu verwechseln mit dem »kommunistischen Volk«, wie Italiener es zu der Zeit nannten, in der ihre Kommunistische Partei Millionen von Mitgliedern und Sympathisanten hatte, die in Reih und Glied bereitstanden, um ihren höchst realen Traum von einer neuen und guten Gesellschaft zu verwirklichen (wenn sie auch in der Praxis nichts weiter als den täglichen Aktivismus der alten sozialistischen Bewegung betrieben, die eher klassen- und gemeinschaftsorientiert war, denn als persönliche Hingabe zu honorieren). Doch trotz ihrer geringen Zahl kann das 20. Jahrhundert ohne den Beitrag dieser Berufsrevolutionäre nicht erklärt werden. Ohne diesen leninistischen »neuen Parteitypus«, dessen Kader die Soldaten der Emanzipationsarmee waren, wäre kaum begreiflich, weshalb sich knapp dreißig Jahre nach der Oktoberrevolution ein Drittel der Menschheit unter kommunistischer Herrschaft befand. Der Glaube an das – und die unbedingte Loyalität gegenüber dem – Hauptquartier der Weltrevolution in Moskau gab den Kommunisten die Möglichkeit, sich selbst (soziologisch gesehen) als Teil der Weltkirche und nicht als eine Sekte zu betrachten. Moskauorientierte kommunistische Parteien haben durch Sezessionen und Säuberungen zwar immer wieder Führungsfiguren verloren, doch bis der Herzschlag der Bewegung nach 1956 schwächer zu werden begann, waren sie von Spaltungen verschont geblieben – ganz anders als die Splittergruppen der marxistischen Dissidenten, die Trotzki nachfolgten, und die noch mehr zerfaserten »marxistisch-leninistischen« Konventikel des Maoismus seit den sechziger Jahren. Wie gering ihre Zahl letztlich auch gewesen sein mag (1943, nach Mussolinis Sturz in Italien, bestand die Kommunistische Partei Italiens beispielsweise nur noch aus etwa 5000 Männern und Frauen, die größtenteils aus Gefängnissen und Exil zurückgekehrt waren), so bildeten sie dennoch den Kern einer Armee von Millionen und waren das, was die Bolschewiken im Februar 1917 waren: potentielle Herrscher über ein Volk und einen Staat.
Für diese Generation – vor allem für jene, die trotz ihrer Jugend schon jahrelangen Aufstand erlebt hatten – gehörte Revolution zu ihrer Lebensgeschichte; für sie waren die Tage des Kapitalismus unweigerlich gezählt und war das gesamte Zeitgeschehen nur ein Vorspiel für den endgültigen Sieg, auch wenn ihn viele Revolutionssoldaten nicht mehr erleben würden (»die Toten auf Urlaub« nannte sie der russische Kommunist Leviné, kurz bevor ihn jene, die für den Sturz der Münchener Räte von 1919 verantwortlich waren, exekutierten). Wenn die bürgerliche Gesellschaft selbst soviel Anlaß hatte, an ihrer Zukunft zu zweifeln, weshalb sollten diese Soldaten dann noch an ihr Überleben glauben? Ihr eigenes Leben war der Beweis dafür.
Nehmen wir das Schicksal zweier junger Deutscher, für kurze Zeit ein Liebespaar, dessen ganzes Leben durch die bayerische Räterevolution 1919 dann aber völlig verändert wurde: Olga Benario, die Tochter eines wohlhabenden Münchener Rechtsanwalts, und der Lehrer Otto Braun. Olga sollte schließlich für die Revolution in der westlichen Hemisphäre arbeiten, gemeinsam mit ihrem späteren Ehemann Luis Carlos Prestes, einem aus dem Militär stammenden Rebellen, der Moskau davon überzeugen konnte, 1935 einen Aufstand in Brasilien zu unterstützen. Der Aufstand wurde niedergeschlagen und Olga von der brasilianischen Regierung an Hitlers Deutschland ausgeliefert, wo sie später in einem Konzentrationslager starb. Inzwischen hatte der erfolgreichere Otto begonnen, in China als Militärexperte der Komintern den Osten zu revolutionieren. Wie sich herausstellen sollte, war er der einzige Nichtchinese, der am berühmten »Langen Marsch« der chinesischen Kommunisten teilgenommen hatte, bevor er wieder nach Moskau und später in die DDR zurückkehrte. (Diese Erfahrung sollte in ihm tiefe Zweifel an Mao hinterlassen.) Wann, außer in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hätten zwei ineinander verwobene Leben solche Formen annehmen können?
Für die Generation nach 1917 hatte der Bolschewismus alle anderen Sozialrevolutionären Traditionen absorbiert, oder er hatte sie an den Rand der Politik gedrängt. Vor 1914 war Anarchismus unter den revolutionären Aktivisten in weiten Teilen der Welt eine weitaus stärker motivierende Ideologie gewesen, als es der Marxismus war. Und außerhalb von Osteuropa war Marx eher als Guru von Massenparteien angesehen worden, deren unausweichlichen, wenngleich nicht unmittelbar bevorstehenden Sieg er wissenschaftlich bewiesen hatte. Aber in den dreißiger Jahren hatte der Anarchismus überall, außer in Spanien, seine Bedeutung als signifikante politische Kraft verloren, sogar in Lateinamerika, wo die schwarz-rote Fahne traditionell viel mehr Kämpfer zu inspirieren vermochte als die rote. (Sogar in Spanien sollte der Bürgerkrieg den Anarchismus schließlich zerstören, während er den bis dahin unbedeutenden Kommunisten den politischen Aufstieg ermöglichte.) Ja, sogar für alle nicht moskautreuen sozialrevolutionären Gruppen blieben Lenin und die Oktoberrevolution der konstante Bezugspunkt, obwohl sich Moskau auf immer brutalere Hexenjagd auf Ketzer begab und Stalin seinen Griff um die sowjetische Kommunistische Partei und die Internationale immer härter werden ließ. Beinahe unterschiedslos wurden solche Gruppen von Komintern-Dissidenten oder Ausgeschlossenen geleitet oder zumindest intellektuell geprägt. Doch nur wenige dieser bolschewistischen Dissidentenzentren konnten sich auch als politische Parteien etablieren. Nicht einmal der bei weitem angesehenste und berühmteste Ketzer, der exilierte Leo Trotzki – einer der Führer der Oktoberrevolution und der Architekt der Roten Armee –, dessen praktische Bemühungen alle fehlschlugen. Seine »Vierte Internationale«, die dazu ausersehen war, gegen die stalinisierte Dritte Internationale anzutreten, blieb vollkommen unsichtbar. Als er auf Stalins Befehl 1940 in seinem mexikanischen Exil ermordet wurde, war er politisch bedeutungslos geworden.
Kurzum, Sozialrevolutionär zu sein hieß immer mehr, Anhänger von Lenin und der Oktoberrevolution und Mitglied oder Vertreter einer der moskauorientierten kommunistischen Parteien zu sein; und das um so mehr, als diese Parteien nach dem Sieg Hitlers in Deutschland die Politik der antifaschistischen Einheit zu der ihren gemacht hatten, was ihnen ermöglichte, aus der sektiererischen Isolation herauszutreten und Massenunterstützung unter Arbeitern und Intellektuellen zu gewinnen (siehe Fünftes Kapitel). Die Jungen unter ihnen, die danach dürsteten, den Kapitalismus zu stürzen, wurden zu orthodoxen Kommunisten und identifizierten ihre Sache mit der moskauzentrierten internationalen Bewegung. Und der Marxismus, der aus der Oktoberrevolution als Ideologie der revolutionären Wende wiedererstanden war, wurde nun vom Moskauer Marx-Engels-Lenin-Institut propagiert, das zur Zentrale für die weltweite Verbreitung der großen klassischen Texte geworden war. Niemand sonst wollte oder schien besser in der Lage zu sein, die Welt nicht nur zu interpretieren, sondern auch zu verändern. Und so sollte es bis nach 1956 bleiben, als der Zerfall der stalinistischen Orthodoxie der Sowjetunion und der moskauorientierten internationalen kommunistischen Bewegung bis dahin marginalisierte Denker, Traditionen und Organisationen linker Heterodoxie zum Vorschein brachte. Doch bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie im gigantischen Schatten der Oktoberrevolution gestanden. Wer auch nur die geringste Ahnung von Ideologiegeschichte hatte, erkannte, daß die radikale Studentenbewegung von 1968 sehr viel mehr vom Geiste Bakunins oder sogar Netschajews umweht war als vom Geiste Marx’. Dennoch kam es zu keiner bedeutenden Wiederbelebung von anarchistischen Theorien oder Bewegungen. Im Gegenteil: Das Jahr 1968 brachte eine enorme Popularität des theoretischen Marxismus unter den Intellektuellen (zumeist in Versionen, die Marx überrascht hätten) und eine ganze Anzahl von unterschiedlichen »marxistisch-leninistischen« Sekten und Gruppen hervor, vereint durch die Zurückweisung von Moskau und den alten kommunistischen Parteien als nichtrevolutionär und nichtleninistisch.
Paradoxerweise fand diese nahezu vollständige Rückkehr zu sozialrevolutionären Traditionen in just dem Moment statt, als sich die Komintern von den revolutionären Strategien der