„Denkt unser feiner Herr Sohn an mein Herz? Nein. Dem ist es völlig egal, wie es mir geht. Soll der alte Trottel sich doch zu Tode schuften!, denkt er. Wenn er so dumm ist, ich kann’s nicht ändern! Wir haben einen rücksichtslosen, selbstgefälligen, stinkfaulen Egoisten, der kein Mitleid kennt, in die Welt gesetzt, Bibiane.“ Matthias griff nach seiner ärmellosen Lederjacke und zog sie an.
„Wohin willst du?“, fragte Bibiane ihren Sohn.
„Ich gehe. Ich hör’ mir das nicht länger an!“, knurrte Matthias.
„Ich bin noch nicht fertig!“, schrie Jan Wylander.
„Ich lasse mich von dir nicht beleidigen, Vater!“
„Du wirst gefälligst bleiben und dir anhören, was ich zu sagen haben.“ Matthias setzte sich auf eine Sessellehne, verschränkte die Arme vor der Brust und blickte seinem Vater trotzig in die Augen.
Jan Wylander pflanzte sich vor seinem Sohn auf. „In einer Familie hat einer für den anderen dazusein. Die Welt da draußen kann sehr gemein sein. Es gibt nicht viele Menschen, die es mit einem ehrlich meinen. Alle anderen lügen, betrügen, stehlen, intrigieren, übervorteilen... Der
Lebenskampf ist hart. Wenn da nicht wenigstens die Familie zusammenhält, wird sie in diesem unerbittlichen Kampf aufgerieben und vernichtet.“ Er sah Matthias durchdringend an. „Du hast deiner Mutter und mir noch nicht viel Freude gemacht, obwohl wir alles für dich getan haben und immer für dich da waren, wenn du uns gebraucht hast. Findest du nicht, dass du uns etwas schuldest? Man kann im Leben nicht immer nur nehmen, man muss hin und wieder auch etwas zurückgeben. Doch auf diesem Ohr warst du bisher stets taub.“
Matthias wippte gelangweilt mit dem Fuß.
„Hör auf damit!“, herrschte sein Vater ihn an.
„Darf ich wenigstens atmen? Oder hast du auch dagegen etwas?“
„Du frecher Halunke, wenn du nicht mein Fleisch und Blut wärst und ich nicht Rücksicht auf deine Mutter nehmen müsste, hätte ich dich schon längst aus dem Haus gejagt.“
„Kann man denn nicht vernünftig mit dir reden, Junge?“, sagte Bibiane Wylander unglücklich. „Was ist bloß los mit dir? Warum bist du so unzugänglich? Wir sind doch nicht deine Feinde! Wir sind deine Eltern, und Papa braucht zum erstenmal im Leben deine Hilfe. Du darfst ihn nicht enttäuschen!“
„Wenn du nach Berlin fährst, anstatt mich in der Firma zu entlasten, sind wir geschiedene Leute“, erklärte Jan Wylander hart. Seine Augen wurden schmal. „Ich meine es ernst, Matthias. Hoffe nicht auf die Fürsprache deiner Mutter. Sie könnte mich dann nicht umstimmen. Wenn du mich jetzt im Stich lässt, bist du für mich erledigt, dann habe ich keinen Sohn mehr.“
Bibiane Wylander weinte.
„Du bekämst keinen Pfennig mehr von mir“, fuhr Jan Wylander verblüffend ruhig fort. „Du könntest nicht mehr wie die Made im Speck leben, damit wäre es ein für allemal vorbei, und mir wäre es egal, was dann aus dir würde. Keinen Finger würde ich mehr für dich rühren. Mein Sohn sitzt in der Klemme? Welcher Sohn? Ich habe keinen Sohn. Wylander heißt er? Tut mir leid, das muss sich um eine zufällige Namensgleichheit handeln. Du würdest sehr bald schon im Gefängnis landen, und ich würde dich dort eiskalt verrotten lassen. Ja, Junge, das brächte ich fertig, wenn du dich nicht endlich darauf besinnst, dass du ein Wylander bist.“
„Weißt du, wie man das nennt, was du tust, Vater?“
„Erpressung?“
Matthias nickte grimmig. „Genau.“
„Ich weiß kein anderes Mittel, um dich endlich zur Vernunft zu bringen.“
11
Eine Stunde nach dieser Kraftprobe, die Jan Wylander für sich entschieden hatte, läutete in Stefanie Behrensens Haus das Telefon.
„Ich kann dich nicht nach Berlin begleiten“, knirschte Matthias Wylander.
„Schade“, sagte das Mädchen mit leichter Trauer in der Stimme.
„Mein Vater braucht mich in der Firma.“
„Das ist natürlich wichtiger“, meinte Stefanie einsichtig.
„Ich habe alles versucht, um darum herumzukommen, doch leider, ich konnte mich nicht durchsetzen.“ Matthias seufzte schwer. „Mein Vater war so stinksauer auf mich wie noch nie. Er stand knapp davor, mich zu enterben. Ich werde also in München bleiben und ihn entlasten. Aber in Gedanken werde ich bei dir sein. Und ich werde dich jeden Tag in Berlin anrufen.“ Er lachte leise. „Vielleicht ist es ganz gut, wenn wir mal ein paar Tage nicht zusammen sind, damit du dich mehr auf deinen Sport konzentrieren kannst.“
„Meinem Trainer wird das ganz bestimmt gefallen.“
Matthias lachte wieder. „Ich wollte Erik Frings immer schon mal eine kleine Freude machen, weil er eine Weltklassesportlerin aus dir gemacht hat.“ Er war einen Moment still. Dann fragte er: „Sehen wir uns heute? Darf ich zu dir kommen? Ich brauche jemanden, der mich nach diesem heftigen Streit mit meinem alten Herrn ein bisschen tröstet.“
„Okay. Wann kommst du?“, wollte Stefanie wissen.
„Ich bin in zwanzig Minuten bei dir.“
„Gib mir eine Dreiviertelstunde“, bat Stefanie. „Ich habe noch ein bisschen was zu tun.“
„Einverstanden“, stimmte Matthias zu und legte auf.
Stefanie lebte allein. Ein Geisterfahrer hatte ihr vor zwei Jahren auf der Autobahn München-Salzburg die Eltern genommen. Sie kochte für sich selbst, und eine Zugehfrau hielt das Haus in Ordnung, damit Stefanie genügend Zeit für den Sport hatte.
Nachdem Stefanie im Keller die Waschmaschine mit Kochwäsche gefüllt und eingeschaltet hatte, heftete sie mit einem Magnet, der die Form eines Laubfroschs hatte, eine Einkaufsliste für die Zugehfrau an die Kühlschranktür, ging nach oben ins Schlafzimmer und zog sich um.
Kurz darauf läutete Matthias an der Haustür, und sie eilte erfreut die Treppe hinunter, um ihn einzulassen.
12
„Endlich hat er begriffen“, sagte Bibiane Wylander erleichtert. „Wenn es wirklich darauf ankommt, weiß er ja doch, was sich gehört. Er ist kein schlechter Junge ...“
Ihr Mann nickte finster. „Eine gute Mutter wird ihr Kind immer in Schutz nehmen.“
„Matthias hat eben noch Angst