„Wir sollten zu Bett gehen“, erklärte Heidi. „Wir sollten sehr vernünftig sein.“
„Mein Gott“, sagte er und ballte die Hände zu Fäusten, schüttelte sie und wiederholte: „Mein Gott, das kann es doch nicht gewesen sein! Heidi, wir zwei haben uns hier getroffen. Wir beide empfinden ungeheuer viel füreinander. Ich für mein Teil habe noch nie für eine Frau so empfunden wie für dich.“
„Du kennst mich gar nicht. Woher willst du dir dieses Urteil schon bilden?“
„Über das, was ich jetzt sage, hätte ich noch vor Tagen herzlich gelacht, abfällig gelacht, verächtlich gelacht. Und ich sage es dennoch, dass man es fühlt, ja, dass man es fühlt. Ich habe so etwas nie für möglich gehalten. Aber es ist eine Tatsache. Ich habe gefühlt, dass du der Mensch bist, auf den ich mein ganzes Leben lang gewartet habe.“
Sie wandte sich ab. „Leider muss ich dir recht geben. Mir ist es genauso ergangen wie dir. Und trotzdem ...“ Sie warf den Kopf in den Nacken und sah ihn entschlossen an. „Ja, trotzdem müssen wir stark sein, müssen wir die Kraft aufbringen, uns gegen das zu wehren, wonach unsere Körper verlangen.“
„Aber das ist doch kindisch! Hör mal!“ Er kam auf sie zu, streckte die Hände nach ihr aus, aber sie wich zurück. „Bitte, lass es! Ich möchte zu Bett gehen. Ich bin müde, und morgen ist auch noch ein Tag. Ein Tag, an dem womöglich die Reue käme.“
Er ging auf sie zu, wollte sie küssen, wollte sie nur einmal in die Arme reißen, an sich pressen, die Nähe ihres Körpers spüren, aber sie entzog sich ihm, wehrte ab, verweigerte sogar den Kuss. Aus tränengefüllten Augen sah sie ihn an. Mit gepresster Stimme sagte sie: „Ich kann nicht. Ich kann das auch nicht. Bitte, lass mich jetzt gehen! Ich habe nicht mehr die Kraft. Ich schaffe es einfach nicht mehr. Versteh mich doch! Ich will es so wie du. Aber wir dürfen es nicht tun! Was uns morgen erwartet, ist entsetzlich. Wir müssen diesen Menschen gegenübertreten können, die zu Hause auf uns warten, oder nicht?“
„Dann sag mir deinen Namen! Sag mir deine Adresse! Ich muss dich wiedersehen.“
„Morgen, morgen, Hans, bitte!“
Er nickte nur, resignierte und hoffte auf das Morgen. Sie nickte ihm mit einem traurigen Lächeln zu, dann war sie draußen. Er raufte sich die Haare, lief im Zimmer auf und ab, stand dann am Fenster, starrte ebenso hinaus, wie sie es getan hatte, sah aber nur vor der Scheibe das eigene Spiegelbild, denn draußen war schwarze Nacht.
Die Feuerwehrkapelle hatte aufgehört zu spielen. Irgendwo im Haus ertönte ein Lachen, Geschirr klirrte. Leute unterhielten sich. Doch allmählich wurde es leiser, und schließlich war es ganz ruhig.
Dr. Berring legte sich auch ins Bett. Mit dem Gedanken, dass er morgen mehr wissen werde, schlief er ein. Aber der Morgen brachte die Enttäuschung, eine furchtbare Ernüchterung, fast einen Schreck für ihn. Denn als er erwacht war und lauschte, hörte er vom Nebenzimmer keine Geräusche. Er klopfte an die Wand, aber es kam keine Antwort. Entschlossen zog er sich die Hose über, verließ das Zimmer und ging auf Zehenspitzen zur Nebentür. Erwartungsvoll klopfte er und lauschte, klopfte wieder, versuchte schließlich die Tür zu öffnen, und sie gab nach. Dann blickte er hinein, sah das aufgeschlagene Bett, den offenstehenden Schrank, in dem keine Kleidungsstücke hingen, sah den Stuhl, auf dem gestern noch Heidis Tasche gestanden hatte.
Aber sie stand nicht mehr dort. Das Zimmer war leer. Von Heidi keine Spur.
Er ging über den Flur hinweg, wo es ein kleines Fenster gab, durch das man auf den Hof sehen konnte. Drüben, neben der Remise, stand sein Wagen. Und der Platz daneben, wo der kleine helle Fiat gestanden hatte, war leer.
Sie ist fort!, dachte er entsetzt. Sie ist fort! Ich weiß nicht ihren Namen, noch ihre Adresse. Ja, ich Narr habe mir nicht einmal die Nummer ihres Autos aufgeschrieben. Wie soll ich sie nur finden? Und ich muss sie finden!
3
Am Morgen strahlte die Sonne, als Heidi Pechner die Autobahn nach Frankfurt entlang fuhr. Wo sich gestern noch eine lange Blechlawine gestaut hatte, war heute alles frei. Der Verkehr rollte normal. Heidi kam gut voran. Als die Sonne höher stieg und es immer wärmer wurde, drehte Heidi das Fenster herunter, so dass der Fahrtwind herein blies und ihr blondes Haar zauste.
Immer wieder dachte sie an den Mann, vor dem sie heimlich geflohen war und zu dem sie am liebsten auf der Stelle zurückgekehrt wäre. Aber ich kann es nicht, dachte sie immer. Ich muss fest bleiben. Ich darf ihn nicht wiedersehen. Es ist ein Wunder, dass nicht mehr geschehen ist und dass es nicht dazu kam, wonach wir beide uns so sehnten. Nein, ich darf ihn nie mehr sehen. Und sie murmelte: „Ich darf nicht nach Köln fahren. Er ist irgendwo in Köln, und er ist Arzt. Er hatte das Zeichen an der Windschutzscheibe. Köln muss ich meiden. Wenn ich ihn wiedersehe, ich weiß nicht, ob ich das nächste Mal die Kraft hätte, allem zu widerstehen.“
Sie spürte, wie sie wieder zitterte. Als ein Parkplatz auftauchte, fuhr sie hinein, hielt an, stieg aus und stand eine ganze Weile neben ihrem Wagen auf zittrigen Beinen.
Was ist nur mit mir los?, dachte sie, wischte sich über die Stirn und spürte den Schweiß an ihren Fingern. Ich glühe und friere zugleich. Es ist wie ein Fieber. Alles in mir drängt mich dazu, umzukehren, zu ihm zurückzufahren. Aber es ist ja Blödsinn, dachte sie. Er ist längst nicht mehr dort. Er wird ... Ihr fiel ein, dass er hier vorbeikommen müsste. Wenn ich hier warte, dachte sie, wenn ich die Autobahn beobachte und seinen Wagen sehe, ich würde ihn sofort wiedererkennen. Und dann ... Nein, sagte sie sich. Ich fahre weiter. Ich fahre zu Dieter und ziehe einen Strich unter all das, was da gestern Abend war. Es ist ein Traum, mehr nicht. Es darf nie mehr als ein Traum sein. Ich bin vier Jahre mit Dieter verheiratet. Ich war die ganze Zeit glücklich mit ihm. Ich liebe Dieter.
Sie wischte sich über die Augen. Liebe, dachte sie, bis jetzt habe ich geglaubt, dass ich Dieter liebe. Aber gegen das, was mich seit gestern Abend gepackt hat, ist es nichts weiter als ein freundschaftliches Gefühl. Vielleicht gab es ein paar Höhepunkte der Leidenschaft, aber Liebe? Diese tiefe Zuneigung, diese alles überbrückende Kraft ... nein, jedenfalls längst nicht so, wie ich es Hans gegenüber empfinde. Warum habe ich ihm nur meine Adresse nicht gegeben? Vielleicht hat er sich mein Kennzeichen notiert. Er wird mich finden.
Sie war erfüllt von einem zwiespältigen Schaudern bei diesem Gedanken. Einesteils erhoffte sie, dass er sie fände, andererseits empfand sie eine panische Furcht davor. Sie finden, das hieße, ihn wiederzusehen, das bedeutete den absoluten Zusammenbruch ihres Widerstandes. Nein, dachte sie, ein zweites Mal kann ich nicht stark genug sein. Im Gegenteil! Ich muss ihn aus meinen Gedanken verbannen.
Entschlossen stieg sie wieder in den Wagen, ließ ihn an und fuhr los. Sie versuchte sich, durch den Verkehr abzulenken, sich ganz und gar auf das Fahren zu konzentrieren, einfach keine Zeit mehr zu haben, an Hans zu denken. Aber es war eine Illusion. Sie dachte immer wieder an ihn. Sie sah sein Bild vor sich und konnte mit ihren Gedanken einfach nicht von ihm loskommen.
Doch noch einmal gab ihr der Zufall eine Chance. Aber es war ein teuflischer Zufall, eine Ironie des Schicksals, als sich weit hinter ihr Dr. Hans Berring mit seinem schweren Mercedes in großer Geschwindigkeit näherte. Es war eine Frage von Sekunden, wann er sie eingeholt und damit gesehen hätte. Aber gerade in diesem Augenblick entschloss sich Heidi, die Raststätte Weiskirchen anzufahren, um zu tanken. Gleich hinter der Zufahrt stand ein Lastwagen mit einer Reifenpanne. Heidi war gerade hinter