„Was heißt das zusammengefasst?“, fragte er ein wenig ironisch.
Ohne auf die Ironie einzugehen, erklärte sie: „Das heißt, dass ich dich liebe. Ich liebe einen Menschen, den ich noch nicht einmal mit Namen kenne. Es ist vielleicht besser, wenn ich diesen Namen nie kennenlerne. Trotzdem möchte ich dich irgendwie anreden. Nenn mir deinen Vornamen! Und nenn du mich Heidi!“
„Heidi klingt schön. Ich heiße Hans.“
2
Beim Essen in seinem Zimmer saßen sie sich gegenüber. Er spürte, dass sie ihn beobachtete, und ertappte sich selbst dabei, dass er sie prüfend ansah.
Als sie gegessen hatte, nippte sie von dem Rotwein, den ihnen die Wirtin im Krug heraufgeschickt hatte. Über das Glas hinweg blickte sie ihn an. Jetzt, wo ihr Haar trocken war, lag es duftig und leicht geschwungen bis zu den Schultern herab.
Sie setzte das Glas ab und sagte: „Ich habe Angst.“
„Angst? Wovor?“, fragte er.
„Es ist bei mir nicht Gewohnheit, mich von Menschen küssen zu lassen, die mir so gut wie fremd sind.“ Sie senkte den Blick, starrte auf die Tischkante und spielte mit den Fingern am Saum der Tischdecke.
„Mir geht es genauso“, erwiderte er. „Es war das erste Mal, seit ich ...“
„Du brauchst dich nicht zu genieren. Sag es ruhig! Seit du verheiratet bist, nicht wahr?“
Er nickte.
„Bei mir ist es genauso.“ Sie hob den Kopf, sah ihn an, und ihr Blick war fest auf ihn gerichtet. „Eigenartig. Ich kenne dich nicht und doch meine ich dich zu kennen. Als ich dich sah, da hatte ich das Gefühl, wir beide wären schon Tausende Male zusammengetroffen.“
„Mir ist es genauso gegangen." Er nickte, fuhr sich gedankenverloren mit der Rechten durch das Haar und fügte hinzu: „Schon, als du vor meinem Wagen aufgetaucht bist und ich dein Gesicht sehen konnte, da hatte ich auf einmal das Gefühl, dass unsere Begegnung schicksalhaft ist. Das klingt unheimlich kitschig, aber es ist wahr. Ich kann nur sagen, was ich wirklich empfunden habe.“
Sie stand auf, ging um den Tisch herum und blieb vor ihm stehen. Lächelnd schaute sie auf ihn herab und strich ihm mit den Fingern ihrer rechten Hand zärtlich durchs Haar, ließ ihre Fingerspitzen über seine Schläfe gleiten, fuhr weiter bis zum Kinn und sah ihn nur immerfort an. „Wir sollten die Zeit nicht vergeuden, aber wir dürfen nicht tun, was wir beide tun möchten. Du musst mir versprechen, dass du meinen Wunsch respektierst.“
„Deinen Wunsch?“ Er lachte bitter auf. „Du wünschst dir dasselbe wie ich.“
Sie wandte sich ab, ging zum Fenster hin, wo der Vorhang zugezogen war, öffnete ihn um einen kleinen Spalt und versuchte etwas von dem zu erkennen, was da draußen lag. Aber da war es dunkel. Die Felder und das Getreide, was noch auf ihnen stand, konnte sie nur ahnen.
„Du wünschst es dir so sehr, wie ich es mir wünsche. Gib es doch zu!“
Ohne sich umzudrehen, sagte sie gegen die Scheibe: „Ja, ich gebe es zu. Ich kann nicht lügen. Aber ich könnte auch nicht tun, wonach mir zumute ist.“
„Wir sind keine Kinder mehr. Wir haben uns gesucht und gefunden. Irgendwie sind wir füreinander bestimmt“, erklärte er.
Sie presste ihre heiße Stirn gegen die kühle Scheibe. „Wir dürfen uns nichts vormachen. Wir sind beide gebunden. Das, was wir tun möchten, dazu haben wir kein Recht.“ Sie drehte sich abrupt um, stützte die Hände aufs Fensterbrett und sah ihn voll an. Ihr Haar war durch die rasche Bewegung auf die linke Schulter gefallen, und so veränderte sich etwas ihr Aussehen. Das Aparte ihres Antlitzes kam noch mehr zur Geltung. Ihre schlanke Gestalt übte einen so verführerischen Reiz auf Dr. Berring aus, dass er nicht anders konnte, als aufzustehen und auf sie zuzugehen. Sie streckte abwehrend die Hände vor, schüttelte den Kopf und sagte: „Bitte, Hans, versuche es nicht! Ich will es nicht tun.“
„Aber du möchtest es tun“, begehrte er auf.
Sie nickte. „Ich habe es ja zugegeben. Aber müssen wir es dennoch ausnutzen?“ Sie senkte den Blick und sagte, ohne ihn anzusehen: „Ich könnte ihm nie wieder in die Augen blicken. Könntest du das denn bei deiner Frau?“ Jetzt hob sie den Kopf, blickte ihn forschend an.
Er biss sich auf die Lippen. „Ich weiß nicht. Ich glaube nicht.“ Er drehte sich um, ging wieder auf den Tisch zu, hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und sagte, während er auf und ab ging: „Wahrscheinlich hast du recht. Und trotzdem könnte es uns einmal leid tun.“ Er blieb stehen und sah sie an. „Aber eins musst du mir versprechen: Wir müssen uns wiedersehen! Hörst du! Versprich es! Wir müssen uns noch öfter wiedersehen und ...“ Er sah sie verzehrend an. In diesem Augenblick war er fest dazu entschlossen, alles über Bord zu werfen, was gewesen war. Wir sind uns begegnet, dachte er, als hätte es so sein müssen. Es ist die große Liebe. Ich habe für Ingrid zu keiner Zeit nur halb so empfunden wie für Heidi. Heidi ... wie mag sie noch heißen? Ein Frankfurter Kennzeichen und ihren Vornamen, das ist alles, was ich über ihre Herkunft weiß, oder besser gesagt, was ich alles nicht weiß.
Sie hatte sich eine Zigarette angezündet, blies den Rauch aus und sah ihn mit einem rätselhaften Lächeln an. Er starrte auf die Glut ihrer Zigarette. Sein Blick streifte ab zu ihren Augen, unergründliche Augen, und doch zog es ihn so sehr an. Alles an ihr zog ihn an, war begehrenswert für ihn.
„Liebe ist eine Kraft“, sagte Heidi und warf mit einer Kopfbewegung ihre Locken nach hinten, „eine Kraft, die zum Himmlischen erheben kann, aber die ebenfalls imstande ist, alles zu zerstören. Es liegt viel an uns, was wir daraus machen. Ich habe Angst, dass wir etwas zerschlagen, was wir beide nie mehr aufbauen könnten.“
„Was willst du damit sagen?“, fragte er. Er streckte ihr die Hand entgegen, wollte sie berühren, musste ganz einfach Kontakt zu ihr haben. Sie ließ es zu, dass seine Hand ihren Arm umschloss, und sie fuhr fort: „Wir brauchen Zeit. Wir haben diese Zeit nötig, um uns über alles klarzuwerden. Es ist nicht so leicht.“
„Warum reden wir nur? Wir zerschneiden mit Worten das, was so schön sein kann. Wir verstümmeln uns mit unserem Gerede, zerstückeln unsere Liebe.“ Er ging auf sie zu, riss sie in die Arme, und sie ließ es geschehen. Doch als er sie küssen wollte, wandte sie den Kopf zur Seite. Er spürte, wie sie zitterte. Ihr ganzer Körper schien zu beben.
„Bitte, lass mich! Lass mich los! Bitte, bitte! Ich flehe dich an! Ich ...“
Er gab sie frei, stand mit hängenden Armen vor ihr und sah sie ernüchtert an. Sie erwiderte seinen Blick und sagte leise: „Es ist Wahnsinn. Ich habe nicht die Kraft, dir zu widerstehen. Du solltest das nicht ausnutzen. Wenn es einmal soweit ist, wenn wir uns nicht mehr beherrschen können, dann werden wir vielleicht in dieser Nacht sehr glücklich sein. Ich bin sicher, dass wir es sind. Aber es gibt auch ein Morgen.“
Verzweifelt erwiderte er: „Dann müssen wir eben dieses Morgen so regeln, dass es in unsere Welt passt.“
Sie schüttelte den Kopf, trat einen Schritt zurück und sagte: „Es