Ich konnte mein Glück kaum fassen. Dad würde mindestens drei Wochen und länger in Manderson zu tun haben und mich jeden Tag auf dem Weg zur Arbeit bei Tom absetzen können. Ich rief Tom an, und er war einverstanden. Er wollte sowieso mit den Pferden arbeiten, und so passten ihm die Reitstunden gut in den Kram.
In der ersten Woche lief dann auch alles ganz prima. Ich durfte Psitó allein aus den Hügeln holen, bürstete und sattelte sie. Dann führte Tom sie an der Longe im Kreis. Er brachte mir bei, wie man im Sattel blieb und wann es vernünftiger war, »auszusteigen«.
»Du wirst irgendwann von selbst spüren, wenn es keinen Zweck mehr hat, sich oben halten zu wollen«, sagte er. »Wenn sich abzeichnet, dass ein Sturz unvermeidlich ist, dann spring lieber ab.«
Wahrscheinlich blickte ich ziemlich verdutzt drein, denn Tom lachte über mein Gesicht. Ich war so versessen darauf, oben bleiben zu wollen, dass es mir nicht in den Sinn gekommen wäre, das Abspringen zu üben.
Wir übten es, während Psitó stillstand, und Tom fing mich ab. »Du bist leicht«, sagte er, »das ist ein großer Vorteil.«
Am Samstagnachmittag stieg ich hinauf zum Trailer der White Elks, um Adena von meinen Fortschritten zu erzählen. Jason, ihr kleiner Bruder, hüpfte auf einem Trampolin vor dem Haus und lachte schallend, als er mich heranhumpeln sah.
»Hat das Pferd dich abgeworfen?«, krähte er schadenfroh.
»Halt die Klappe, Spatzenhirn«, ächzte ich.
Adena, die im Gras saß und mit Picus Welpen spielte, lachte auch. Aber sie, die bei ihrem Großvater reiten gelernt hatte, tröstete mich und schwor, dass die Schmerzen vergehen würden, wenn ich den Dreh erst mal raushatte.
»Aber ich kann es«, sagte ich beleidigt, als ich mich neben ihr ins Gras plumpsen ließ. »Ich kann es wirklich.«
Adena lachte noch lauter. »Es sieht aber gar nicht danach aus.«
»Wonach sieht es denn aus?«
»Als wärst du hundert Jahre alt«, sagte sie.
Ich legte mich zurück und einer der Welpen, die alle ein kurzes rotes Fell hatten, leckte über mein Gesicht.
»Na siehst du«, meinte Adena, »sogar Sip hat Mitleid mit dir.«
»Sip?« Ich verzog das Gesicht. »Wie kannst du sie unterscheiden?«
Alle drei sahen aus wie kleine Kojoten und ich konnte sie beim besten Willen nicht auseinander halten.
»Sie heißen Sip, Flip und Chip«, sagte Adena achselzuckend. »Wenn ich einen rufe, kommen alle drei.«
Nellie White Elk erschien in der Tür und Jason, der immer noch auf dem Trampolin hüpfte, schrie: »Tally hat mich Spatzenhirn genannt, Mom.«
Nellie White Elk wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und ich sah, wie sich ihre Lippen zu einem Lächeln verzogen. »Wie sieht es aus, ihr jungen Damen?«, wandte sie sich an Adena und mich. »Ich könnte Hilfe brauchen.«
Wir folgten Adenas Mutter ins Haus und halfen ihr Gemüse für eine Suppe zu schnippeln. Sellerie, Kartoffeln, Karotten, Zwiebeln, Mais und Timpsila,eine Wildrübe in der Größe eines Rettichs, die an vielen Stellen im Reservat wuchs.
Adenas Mutter rollte kleine Fleischklößchen aus Elchhack, die sie in der Pfanne anbriet, bevor sie in die Suppe kamen. Als alles geschnippelt war, schickte sie Adena und mich los, damit wir am Rand des Weges, der zum Trailer führte, ein paar Stängel Lamb’s Quarter pflückten, eine Krautpflanze, deren dicke grüne Blätter mehr Vitamin C in sich haben als Spinat.
Als wir jeder mit einer Hand voll Lamb’s Quarter zurückkamen, duftete es schon köstlich in Nellie White Elks Küche und mir lief das Wasser im Mund zusammen. Nellie rief meinen Vater an und lud ihn zum Duschen und zum Abendessen ein. Doch als Adena ihr erzählte, was für einen Muskelkater ich vom Reiten hatte, wurde aus der Dusche ein Vollbad, in das nach mir noch mein Dad stieg. Ich fühlte mich wie neugeboren!
Es wurde noch ein richtig lustiger Abend. Wir ließen uns Nellies »Unkrautsuppe« – wie Jason sie nannte – schmecken und danach gab es Wojapi, dunkle Beerengrütze aus getrockneten Traubenkirschen und Maisstärke. Mein Vater und Charlie White Elk sangen Lieder auf Lakota. Dad hatte eine schöne Stimme, und ich hätte ihm stundenlang zuhören können. Aber er war ziemlich geschafft von der Arbeit und wurde immer müder. Gegen zehn Uhr bedankten wir uns für die Einladung und verabschiedeten uns.
Später, als ich in meinem Bett lag, dachte ich, dass es schön war, eine richtige Familie zu haben. Vater und Mutter und vielleicht noch ein paar Geschwister, die zu einem hielten. Aber mein Vater hatte nicht vor wieder zu heiraten, obwohl er erst fünfunddreißig war. Er brachte auch nie eine Frau mit nach Hause. Dabei hätte ich ihm das überhaupt nicht übel genommen. Dad sprach niemals schlecht von meiner Mutter, aber ich wusste, dass er es noch immer nicht verwunden hatte, dass sie ihn und mich verlassen hatte.
Als ich am darauf folgenden Montagmorgen wie gewohnt an die Haustür der Thunderhawks klopfte, stand plötzlich Neil vor mir, Toms Sohn. Mir rutschte das Herz in die Hose und vor Schreck bekam ich kein Wort heraus. Ich spürte, wie ich ganz langsam rot wurde und nichts dagegen tun konnte.
Neil war ein ganzes Stück größer als ich, und ich musste den Kopf zurücklehnen, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Er war sehr schlank, hatte aber kräftige Schultern und Arme. Sein Haar trug er straff nach hinten gekämmt, auf traditionelle Art zu zwei dicken glänzenden Zöpfen geflochten. Er war ein Lakota mit sehr dunkler Haut und ich ahnte, dass sie nicht von der Sonne so dunkel war, sondern deshalb, weil es unter seinen Vorfahren keinen Weißen gegeben hatte. Neils Augen leuchteten genauso schwarz wie die seines Vaters, und er musterte mich von oben bis unten mit einem durchdringenden Blick.
Ich begann zu stottern. »Ich wollte … ist denn … wo …«
»Wenn du zu meinem Vater willst«, unterbrach er mein Gestammel, »der ist nicht da.« Neils Stimme war fast so dunkel wie die von Tom Thunderhawk. Auf seinen Lippen zeigte sich ein spöttisches Lächeln.
Ich sackte in mich zusammen. Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet. Was sollte ich denn jetzt tun? Dad hatte mich unten an der Straße rausgelassen und war gleich nach Manderson weitergefahren. Wie in der vergangenen Woche wollte er in der Mittagszeit kommen, um mich nach Hause zu bringen.
Zu Tante Charlene konnte und wollte ich nicht gehen, denn ich hatte gesehen, dass Marlin zu Hause war. Mir blieb nichts anderes übrig, als die Zeit irgendwie herumzubringen. Leider hatte ich nicht einmal meine Zeichentasche mitgenommen, was ich jetzt sehr bereute.
»Wann kommt Tom denn wieder?«, fragte ich, nachdem ich das Gefühl hatte, wieder einigermaßen normal sprechen zu können.
»Übermorgen«, sagte Neil. »Er ist mit meiner Mutter und den Mädchen zu meinem Großvater gefahren.« Die Mädchen, das waren Bey und April, seine beiden kleinen Schwestern.
»Dann komme ich übermorgen wieder«, sagte ich kurz entschlossen und wandte mich zum Gehen. Nichts wie weg hier, dachte ich.
Aber Neil machte einen großen Schritt auf mich zu und hielt mich am Arm fest. »Nun warte doch mal«, sagte er.
Ich musste ihn so erschrocken angesehen haben, dass er seine Hand zurückzog – als hätte er sich verbrannt. »Dad hat gesagt, ich soll mit dir reiten üben, wenn du kommst.«
Ich schüttelte den Kopf. Das war ein Reflex.
»Du willst nicht?«, fragte er und seine dunklen