Tatsächlich liefen die Pferde zum Unterstand, und als ich mich noch einmal zu ihnen umwandte, sah ich jemanden aus der Scheune kommen. Die Gestalt war groß, aber nicht so kräftig wie ein Mann. Es war ein Junge mit langen Zöpfen. Er musste gespürt haben, dass er beobachtet wurde, denn er drehte sich um und sah zu mir herüber.
Ich tat so, als hätte ich ihn nicht bemerkt, und lief einfach weiter zum Haus meiner Tante. Mein Herz flatterte wild wie ein Vogel in meiner Brust, weil ich den Blick des Jungen in meinem Rücken spürte. Wer er wohl war? Hatte Tom Thunderhawk einen Sohn? Dad hatte mir gar nichts davon erzählt, dass Tante Charlenes neuer Nachbar eine Familie hatte.
Von nun an begleitete ich meinen Vater jedes Mal bereitwillig, wenn er zu Tante Charlene fuhr. Um die Pferde zu sehen, nahm ich sogar Marlins Schikanen in Kauf. Er kniff mich, wenn niemand hinsah, und zog mich an den Zöpfen. Er war vierzehn und ich konnte nicht begreifen, dass ihm derart kindisches Benehmen Vergnügen bereitete. Aber auch wenn seine Kniffe blaue Flecken auf meinen Armen hinterließen, die noch lange zu sehen waren: Vielmehr schmerzte es mich, wenn er über mich lästerte.
Daran, dass er mich Halbblut und Powwow-Unfall schimpfte, hatte ich mich inzwischen gewöhnt, aber er zog auch gerne über mein Äußeres her. Spitznase, Brett mit Warzen, Knochenbein, Heuschrecke.
Um Marlins Demütigungen zu entgehen, ließ ich mich oft gar nicht erst im Haus blicken, sondern machte mich gleich auf den Weg zu den Pferden. An manchen Tagen war es schon sommerlich warm, und wenn ich am roten Haus der Thunderhawks vorbeiging, sah ich manchmal zwei kleine Mädchen auf der Wiese spielen oder eine junge Frau, die Wäsche auf eine Leine hängte und mir freundlich zuwinkte. Auch den Jungen, von dem ich inzwischen wusste, dass er Toms Sohn war, sah ich hin und wieder, machte aber jedes Mal einen großen Bogen um ihn.
Bisher hatten Jungs mich kaum interessiert, wobei Adena meinte, das läge nur daran, weil die Jungs sich nicht für mich interessierten. Vielleicht hatte sie damit sogar Recht. Was nützte es mir, ihnen mit schmachtenden Blicken hinterherzusehen, wenn sie mich überhaupt nicht wahrnahmen.
Einen plausiblen Grund, warum ich Toms Sohn aus dem Weg ging, hätte ich nicht zu nennen gewusst. Zugegeben, in Wahrheit brannte ich darauf, ihn kennen zu lernen. Ich hatte nämlich gesehen, wie er mit den Pferden sprach, wie liebevoll er mit ihnen umging. Sie dankten es ihm mit Vertrauen und Zuneigung. Und jemand, dem Tiere auf diese Weise vertrauten, musste ein besonderer Mensch sein.
Vielleicht hätte er mir das Geheimnis verraten, wenn ich den Mut aufgebracht hätte, ihn anzusprechen. Stattdessen übte ich mich in Geduld, lockte und fütterte die Pferde mit Pellets und gewann auf diese Weise die Zuneigung von Stormys Mutter und den anderen Tieren. Einzig der gefleckte Hengst und das Fohlen weigerten sich immer noch, mir aus der Hand zu fressen. Der Hengst war zu stolz und Stormy zu vorsichtig.
Aber ich gab nicht auf, und nach einiger Zeit gewöhnte sich das Fohlen an meine Stimme und meinen Geruch. Es begann sich für meine Spezialitäten zu interessieren und verlor seine Scheu. Stormy schnupperte an den duftenden Pellets, fraß ein wenig und ließ zu, dass ich sie am Kopf berührte. Es war ein unglaublich schönes Gefühl, als ich zum ersten Mal ihre gesprenkelten Nüstern streichelte, die sich so samtig anfühlten wie weich gegerbtes Wildleder.
Seit ich Stormy das erste Mal gesehen hatte, war sie bereits ein Stück gewachsen und längst nicht mehr so zittrig und ungelenk wie am Anfang. Wenn das Stutfohlen hinter seiner Mutter herjagte und ausgelassene Sprünge vollführte, dann sah es aus wie ein Schneewirbel auf der grünen Frühlingswiese.
Einmal begleitete mich Adena zu den Pferden, und ich bewies ihr, wie wild die Tiere auf meine ungewöhnlichen Leckerbissen waren. Die Stuten und die beiden Jährlinge ließen sich von ihr füttern, nur der Hengst und Stormy nicht. Da wusste ich, dass zwischen mir und dem Fohlen etwas Besonderes entstanden war, etwas, das nicht nur mit den schmackhaften Pellets zu tun hatte, die ich ihm brachte.
Stormy erkannte mich und vertraute mir.
»Es mag mich nicht«, sagte Adena gekränkt. »Wieso kannst du es streicheln und ich nicht?«
»Du bist ihm fremd, das ist alles«, tröstete ich sie. Und während ich das sagte, durchströmte mich ein warmes, wunderbares Gefühl von Einzigartigkeit. Ich streichelte Stormy, mein Fohlen, das mir nicht gehörte. Es stupste mich an und schien mir sagen zu wollen, dass es mich ebenfalls mochte.
* wakan: heilig
Eines Tages Ende Mai, als ich wieder bei den Pferden war, passierte, was ich immer befürchtet hatte. Tom Thunderhawk kam dazu, wie ich Stormy mit Pellets aus der Ölpresse fütterte. Ich erschrak, als er plötzlich hinter mir stand, denn ich hatte ihn nicht kommen gehört. Er war groß, noch größer als mein Vater, hatte dunkle Haut, zwei dicke glänzende Zöpfe, schwarze Augen und narbige Wangen. Auf dem Kopf trug er eine rote Baseballkappe mit dem Aufdruck KILI Radio.
»Du verwöhnst meine Pferde«, sagte er mit strenger Stimme, deren Resonanz ich in meinem Magen spürte.
Ich versteckte den Beutel hinter meinem Rücken und blickte verlegen zu Boden, als könne ich irgendwie im Gras verschwinden.
»Was gibst du den Pferden denn da?«, fragte Tom. »Sie scheinen ja richtig wild darauf zu sein. Zucker ist nicht gut für sie, schon gar nicht für ein Fohlen, das noch säugt. Sie kriegen schlechte Zähne, und dann habe ich ein großes Problem.«
»Es ist nichts Süßes«, stotterte ich. »Das würde ich ihnen nie geben.« »Was ist es dann?« Er streckte fordernd die Hand aus und ich reichte ihm widerstrebend meinen Beutel. Er fasste hinein, nahm ein paar Pellets und roch daran.
»Das sind Reste aus einer Ölpresse«, sagte ich, einen Anflug von Trotz in der Stimme. »Sonnenblumensaat mit Kräutern. Sie fressen es furchtbar gern.«
»Soso«, bemerkte Tom brummig, aber dann erschien plötzlich ein breites Lächeln auf seinem narbigen Gesicht. »Wasté«, sagte er, was auf Lakota so viel wie »gut« oder »schön« bedeutete. »Ist genehmigt, junge Frau.«
»Wirklich?« Ich konnte mein Glück kaum fassen und wurde rot. Ich war dreizehn Jahre alt, klein und dünn. Junge Frau hatte noch nie jemand zu mir gesagt.
»Ja, du kannst sie damit füttern, das ist in Ordnung.« Er gab mir den
Beutel zurück und lachte, als Stormy neugierig an meiner Hand zu knabbern begann. »Das Fohlen mag dich«, sagte er freundlich.
»Ja«, sagte ich, »ich mag Stormy auch.«
Tom betrachtete mich mit einem seltsam fragenden Blick und ich schlug mir die Hand vor den Mund, als mir bewusst wurde, was ich verraten hatte.
»So so, du gibst meinen Pferden also Namen«, sagte er, mit offensichtlicher Verwunderung.
Ich senkte den Kopf. Mit Sicherheit hatte Tom dem gepunkteten Fohlen längst einen Namen gegeben und es konnte natürlich nicht zwei Namen haben.
»Nur dem Fohlen«, erwiderte ich kleinlaut.
»Stormy ist ein schöner Name«, meinte er schließlich. »Schöner als Corry, aber er klingt ähnlich. Meinetwegen kann das Fohlen deinen Namen behalten.«
»Wirklich?« Ich blickte auf und strahlte Tom an.
»Ja, warum nicht.« Er nannte mir die Namen der anderen Tiere und so erfuhr ich, dass Stormys Mutter Hanpa hieß und der gefleckte Hengst Taté. Das war Lakota und bedeutete Wind.
»Hast du ihn schon mal laufen sehen?«, fragte Tom.
Ich schüttelte den Kopf. Meine Zeit bei den Pferden war immer nur kurz, nie länger als eine Stunde.
»Er ist schnell wie der Wind, daher hat er auch seinen Namen. Nur ich und mein Sohn Neil dürfen ihn reiten.«
So erfuhr ich die Namen der Pferde und dass der Junge, den ich manchmal dabei erwischte, wie er mich beobachtete, Neil hieß.
Tom