Neil stieß grimmig Luft durch die Zähne. »Erst blind vernichten und dann retten, was übrig geblieben ist. Das ist typisch für die Weißen.« Keine Ahnung, ob er wusste, dass meine Mutter eine Weiße war, auf jeden Fall schien er die Wasicún, wie wir Lakota die Weißen nennen, nicht besonders zu mögen. Mein letztes bisschen Hoffnung, dass Neil sich vielleicht doch für mich interessieren könnte, schwand auf einmal. Nach seinem Vortrag über Appaloosapferde sagte er nichts mehr und er fragte auch nichts. Wer ich war und was ich dachte, schien ihn überhaupt nicht zu interessieren.
Wieder vor der Scheune angelangt, glitt Neil vom Pferd und half mir herunter. Wenn ich direkt vor ihm stand, reichte ich ihm nur bis zum Kinn, und so brauchte ich ihm wenigstens nicht in die Augen zu schauen.
»Danke«, sagte ich, »das war toll. Aber jetzt muss ich vor zur Straße. Mein Vater kommt sicher gleich.« Ich wandte mich um und sprintete los.
»Hey«, rief Neil mir hinterher. »Kommst du morgen wieder?«
Verwundert blieb ich stehen und drehte mich noch einmal zu ihm um. »Soll ich denn?«
Er zuckte die Achseln. »Das liegt ganz an dir. Ich bin jedenfalls da.« Er grinste. »Und die Pferde auch.«
»Okay«, stieß ich hervor. »Dann tschüss bis morgen.«
»Tóksâ«, rief er mir hinterher.
Meinem Vater erzählte ich nichts davon, dass ich ohne Sattel auf Psitó geritten war, mit Neil Thunderhawks Armen um meine Hüften und seinem Herzschlag im Rücken. Das bereitete mir einige Bauchschmerzen, denn bisher hatte ich meinem Vater immer alles erzählt. Einen Grund, ihm etwas zu verheimlichen, hatte es nie gegeben.
Aber diesmal hatte ich das ungute Gefühl, dass er Bedenken haben könnte, wenn er wüsste, bei wem und vor allem: wie ich heute meine Reitstunde genommen hatte. Auf dem Nachhauseweg fragte er aber nur, ob ich Fortschritte machte, Details wollte er keine wissen. Darüber war ich froh.
Dad war mit dem Bau des Waschsalons beschäftigt und hatte den Kopf voll mit Dingen, die er beachten musste. Zum Glück. Sonst hätte er längst gemerkt, was mit mir los war.
Die Aufregung dehnte sich in mir, schob die verwirrenden Gefühle hin und her, sodass ich zu platzen drohte, wenn ich mein Erlebnis nicht so bald wie möglich jemandem erzählen konnte.
Kaum war Dad wieder nach Manderson gefahren, rannte ich hinauf zu Adena, die hinter dem Haus Wäsche auf eine Leine knüpfte. Ich half ihr dabei, damit sie schneller fertig wurde und wir uns aus dem Lauschbereich von Jason, der Nervensäge, begeben konnten. Wir rannten um die Wette den Berg hinauf, bis wir ganz oben angelangt waren.
»Was ist denn bloß los mit dir?«, fragte Adena, als sie sich keuchend ins Gras fallen ließ – natürlich nicht, ohne sich vorher zu vergewissern, dass dort kein Giftefeu wuchs und keine Klapperschlange in der Sonne lag. »Du bist ja ganz hippelig.«
Ich setzte mich neben sie, hörte das Geräusch meines Atems in meinem Bauch. »Ich bin heute ohne Sattel geritten«, platzte ich heraus. Adena verdrehte die Augen. »Na, das ist ja wohl keine Kunst«, bemerkte sie völlig unbeeindruckt.
»Für dich vielleicht nicht«, schmollte ich. »Aber ich fand es ziemlich aufregend. Vor allem, weil Neil mit auf dem Pferd saß.«
Adena setzte sich auf und zog eine Augenbraue hoch. »Neil?«, fragte sie. Auf einmal hatte ich ihre volle Aufmerksamkeit.
»Neil Thunderhawk, Toms Sohn.«
»Von einem Neil hast du mir noch gar nichts erzählt«, sagte Adena spitz, nachdem sie den träumerischen Ausdruck auf meinem Gesicht gründlich studiert hatte. »Saß er vor dir oder hinter dir?«
»Hinter mir«, sagte ich, ein wenig verwundert über ihre Frage.
»Wie alt ist er denn?«
Schwang da etwa Eifersucht in Adenas Stimme mit?
»Fünfzehn«, sagte ich. Das wusste ich von Tom.
»Und?«
»Er kann total gut mit Pferden umgehen, reitet den großen Hengst und weiß alles über Appaloosas«, schwärmte ich.
Adena ließ sich stöhnend wieder ins Gras fallen. »Was ich meine, ist: Sieht er gut aus?«
»Ich glaub schon.«
»Ich glaub schon«, äffte sie mich nach. »Du musst doch wissen, ob ein Junge gut aussieht oder nicht!«
Ehrlich gesagt, hatte ich mir bisher über solche Dinge wenig Gedanken gemacht. Adena war es, die ständig den Jungs hinterherschaute und sich darüber aufregte, dass sie sich nicht schminken und keine Spagettiträger tragen durfte, weil ihre traditionellen Eltern das nicht erlaubten. Adena war einen halben Kopf größer als ich und ihre weiblichen Rundungen weitaus deutlicher entwickelt als meine. Die begehrlichen Blicke der Jungs an unserer Schule, mit denen sie Adena verfolgten, waren mir nicht entgangen.
Für mich interessierte sich niemand. Vielleicht lag es an meiner knabenhaften Figur, vielleicht auch daran, dass ich ein Halbblut war. Es gab ein paar Leute im Reservat, die bemitleideten mich und sahen verächtlich auf meinen Vater herab, weil er eine Weiße geheiratet hatte. Deshalb hatte ich es mir zur Angewohnheit gemacht, mich im Hintergrund zu halten, um möglichst nicht aufzufallen. Da ich klein war und unscheinbar, funktionierte das wunderbar. Häufig wurde ich überhaupt nicht bemerkt.
Bei Adena und ihren Eltern brauchte ich mich nicht zu verstecken. Obwohl die White Elks eine sehr traditionelle Lakota-Familie waren, beurteilten sie einen Menschen nicht danach, ob er weißes Blut in den Adern hatte oder nicht. Darüber war ich mächtig froh. Und froh war ich auch, dass ich so eine Freundin wie Adena hatte. Eine Freundin, die zwar gerne unkte, manchmal ziemlich erwachsen tat und mich hin und wieder auch mal auslachte, aber nicht deshalb, weil ich eine Iyeska,ein Halbblut, war.
»Er sieht umwerfend aus«, sagte ich und hoffte, dass Adena sich damit zufrieden geben würde. Sie war ständig verliebt. Im Augenblick interessierte sie sich für einen Jungen aus der Parallelklasse, der sie bisher allerdings überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Da gerade Ferien waren, sah sie ihren Billy so gut wie nie und schrieb dauernd irgendwelche Liebesbriefe, die sie mir zeigte, dann aber doch nicht abschickte.
Adena zupfte Grashalme aus, machte ein ernstes Gesicht und bewertete sämtliche Jungs an unserer Schule, über die es sich zu reden lohnte, auf einer Punkteskala von 1 bis 10. Am schlechtesten kamen die weg, die sich über Mädchen lustig machten und herumposaunten, mit welcher sie angeblich schon geschlafen hatten.
Im Flüsterton unterhielten wir uns über Sex, ein dunkles, unerforschtes Land, an dessen Grenze wir standen. Wir sehnten uns danach, sie zu überschreiten, und fürchteten uns gleichzeitig davor. Wir lagen im Gras, kicherten und seufzten und bedauerten, dass wir erst dreizehn waren.
»Und, wirst du morgen wieder Reitunterricht bei ihm nehmen?«, fragte Adena, wobei sie das Wort Reitunterricht mit einem gewissen Unterton aussprach, der mir nicht entging.
»Ja, er hat es mir angeboten.«
»Dann pass nur gut auf!« Sie lächelte wissend.
»Worauf denn?«, neckte ich sie.
»Vielleicht will er dir ja noch was anderes beibringen als Reiten.«
Wir lachten, bis wir keine Luft mehr bekamen. Die Sonne brannte auf uns herab und der Duft des wilden Salbeis umhüllte uns wie eine betörende Wolke voller Versprechungen.
Dank Adenas Warnung fand ich in dieser Nacht keinen Schlaf. Mit Sicherheit gab es nichts, aber auch gar nichts, was Neil Thunderhawk mir außer Reiten noch beibringen wollte. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass er etwas an mir fand.
Als ich dann