9
Wir waren offenbar nicht vorsichtig genug. Ich hätte vielleicht daran denken sollen einen Bindfaden mitzunehmen. Stand es nicht schon in den alten griechischen Sagen geschrieben, dass die schöne Ariadne mit einem Bindfaden aus dem Labyrinth des Minotaurus entkommen war? Naja, Gordon hätte es vielleicht sogar noch besser wissen müssen als ich, aber Historiker beschäftigten sich vermutlich eher mit harten Tatsachen als mit Sagen.
Wie dem auch sei, wir hatten uns verirrt. Aber das lag natürlich nicht nur an uns, sondern an den Umständen, mit denen wir in keinem Fall so drastisch hatten rechnen können.
Zuerst war es noch relativ einfach gewesen, wir hatten uns sogar den Weg aufgezeichnet, denn Gordon schien grundsätzlich Papier und Stift bei sich zu tragen. Doch dann veränderte sich der Gang in erschreckende Weise. Ich trat irgendwo auf eine leichte Unebenheit, und gleich darauf war ein schleifendes Geräusch zu hören. Erschreckt fuhr Gordon herum, der die Lampe trug, und uns beiden rutschte das Herz in die Hose.
Aus der Wand schob sich eine Mauer und versperrte uns den Rückweg. Für einen Augenblick überlegten wir noch, uns durch den immer enger werdenden Spalt zu zwingen, doch dafür waren wir viel zu langsam. Der letzte kleine Zwischenraum schloss sich mit einem schmatzenden Geräusch, und wir schauten uns entsetzt an. Gordon rang um seine Fassung, doch er beherrschte sich schnell wieder.
„Weiter vorwärts“, murmelte er. „So schrecklich viel Auswahl haben wir jetzt nicht mehr.“
Einige Meter weiter gabelte sich der Gang, wir entschieden uns für die rechte Seite, getreu einer alten Regel folgend, dass man rechts herum meist wieder zum Ausgang kam. Das würde uns hier vermutlich nicht viel nützen, denn der Weg war versperrt. Aber wer würde ein solches Labyrinth anlegen ohne die Möglichkeit eines weiteren Auswegs?
„Da ist eine Tür“, stellte Gordon fest.
„Versuchen wir es“, schlug ich vor.
Die Tür besaß eine verrostete Klinke, die erbärmlich quietschte und nur schwer zu drücken war. Der Strahl der Taschenlampe beleuchtete den Raum dahinter, und im nächsten Moment schrien wir gemeinsam auf. Ein Skelett grinste uns entgegen, aus den toten Augenhöhlen krabbelten dicke fette Spinnen, die sich offenbar von uns gestört fühlten. Ich kämpfte unvermittelt gegen die Übelkeit, ein solcher Anblick war nicht alltäglich, weder die Spinnen, noch das Skelett.
Wieder war es Gordon, der sich als erster fasste. Er griff nach meiner Hand, drückte sie und hielt sie dann fest.
„Der hier tut uns nichts mehr. Aber es sieht tatsächlich so aus, als wären wir am Ziel. Sehen Sie.“ Er leuchtete auf eine Wand hinter dem Skelett. Dort befand sich eine weitere Tür, und mittendrin war eine Vertiefung, die ganz den Eindruck machte, als könnte das Kreuz aus Stein, das ich noch immer fest in der Hand umklammert hielt, hineinpassen.
Wir umrundeten das Skelett und konnten sehen, dass es von hinten aufgespießt worden war. Von vorn hatten wir die Spitze nicht sehen können, sie steckte in einigen Lumpen fest, die verrottet um die alten Knochen hingen. Ein Speer war aus der Wand gekommen und hatte den Menschen getötet. Gab es hier noch mehr von diesen Fallen? Dann mussten wir auf jeden Schritt achten.
Diese Erkenntnis kam uns beiden gleichzeitig.
„Sie rechts, ich links“, bestimmte ich und musterte misstrauisch die Wände, die Decke und den Boden, soweit ich in dem schwachen Licht etwas erkennen konnte.
Gordon war fasziniert von der Tür. Überall gab es Schriftzeichen und Kryptogramme, für einen Historiker auf jeden Fall eine Schatztruhe.
„Passen Sie auf“, forderte ich. „Schließlich habe ich keine Lust, den Weg allein nach draußen zu suchen.“
„Schon gut, aber ich gebe zu, es ist faszinierend, eine derart realistische Forschung habe ich noch nie mitgemacht. Was glauben Sie, können wir noch einmal hierher kommen? Ich brauche eine Kamera und mehr Licht...“
„Erst einmal sollten wir wieder hinauskommen“, gab ich praktisch zu bedenken, und er seufzte.
Ich stand nun vor der Tür und spürte eine eisige Ausstrahlung, so als wollte die Tür mich davon abhalten weiterzumachen. Zögernd schaute ich auf das Kreuz und spürte die fragenden Blicke von Gordon. Konnte er es ebenfalls fühlen? Ich überwand meine Angst und steckte entschlossen das Kreuz in die vorgesehene Öffnung. Es hakte, aber nur für einen Moment, dann glitt es widerstandslos in das Loch.
Im nächsten Moment brach scheinbar die Hölle los.
10
Seine Lordschaft, Reginald of Glencraven, saß in seinem Arbeitszimmer. Hier verbrachte er die meiste freie Zeit des Tages, wenn seine Anwesenheit nicht gerade bei der Verwaltung der ausgedehnten Güter gebraucht wurde. Er hatte jedoch tüchtige Leute, die recht gut in der Lage waren die anfallenden Arbeiten zu erledigen und auch mit ungewöhnlichen Situationen fertig zu werden. Er selbst hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die Familiengeschichte aufzuarbeiten. Vor einiger Zeit war ihm durch Zufall eine alte Chronologie in die Hände geraten, und wenig später hatte er in einer Nacht Kontakt mit den drei Geistern gehabt, die seltsame Andeutungen machten. Er wusste mittlerweile, dass seine Vorfahren auf nicht ganz rechtmäßige Weise in den Besitz von Rosemont Hall gelangt waren, aber das spielte natürlich heutzutage keine Rolle mehr, die Besitzurkunden waren rechtens verbrieft und gesiegelt. Aber wissen wollte seine Lordschaft schon, was damals geschehen war, und so hatte er begonnen zu forschen.
Das erwies sich als gar nicht so einfach, und mehr als einmal hatte er sich schon gefragt, ob er nicht einem Hirngespinst nachjagte. Geister, die Kontakt mit ihm aufnahmen! War das nicht total verrückt?
Und doch, ein untrügliches Gefühl sagte ihm, dass seine Tochter Jessica ein ähnliches Erlebnis gehabt haben musste, denn sie benahm sich neuerdings genauso verstört wie er selbst nach dem ersten Besuch aus der Vergangenheit. Und dann dieser überraschende Besuch eines Historikers. Nie zuvor hatte Jessica aus heiterem Himmel einen Mann eingeladen. Ihm war nicht einmal bekannt gewesen, dass seine Tochter außer Professor Hagen jemanden kannte. Die beiden hatten auch nicht gerade den Eindruck gemacht, als würden sie sich schon länger kennen oder besonders viel füreinander empfinden. Aber Sympathie war vorhanden, es bestand also Hoffnung, dass sich da etwas entwickeln würde, auch wenn es noch längst nicht soweit war.
Natürlich hätte Lord Reginald für seine Tochter nur den besten aller Männer gewünscht, es lag jedoch nicht in seiner Macht darüber zu bestimmen.
Eine innere Unruhe erfüllte den Mann, er spürte, dass irgendetwas vorging, vor allem war er plötzlich sicher, dass etwas nicht stimmte.
Jessica!
Das Bild seiner Tochter stand unvermittelt vor seinem geistigen Augen. Sie war in Gefahr. Wild schaute er sich um, doch alles wirkte harmlos und friedlich. Der Duft einer Blume stieg im Raum auf, eine Rose. Aus dem Nichts erschien tatsächlich eine schwarze Rose auf dem Schreibtisch, verblasste gleich darauf aber wieder, als wäre sie niemals da gewesen. Das war ein Zeichen, doch