„Junge, versteh doch! Ich will dir nichts Böses! Vielmehr glaube ich, dass du eine herausragende Fähigkeit besitzt, mit der Geisterwelt zu kommunizieren, mit der vielleicht ein Mensch in einer Generation geboren wird.“
Aigonn wollte seinen Ohren nicht trauen. Hatte er richtig gehört? Rowilan hatte ihm soeben unterschwellig zugestanden, begabter zu sein als er selbst? Am Ausdruck des Schamanen wurde sichtbar, dass er Aigonns Gedanken erahnte. Obwohl ihm ein Hauch von Missgunst über das Gesicht huschte, ergänzte er: „Du müsstest mir nur endlich verraten, zu was du in der Lage bist!“
„Ich habe damit wirklich nichts zu tun!“, antwortete Aigonn. Nun war Rowilan ehrlich enttäuscht. Die Miene des Schamanen verhärtete sich wieder, als er abschließend sagte: „Dann soll es so sein, wenn du es nicht anders haben willst! Aber eines sage ich dir: Komm nicht zu mir, wenn du irgendwann nicht mehr kontrollieren kannst, was du tust!“
Damit ging Rowilan. Aigonn war verunsichert, als er den Schamanen in seinem aus Holz und Lehm erbauten Haus verschwinden sah. War dies soeben ein echtes Angebot gewesen? Ein Angebot ohne Haken und Hintergedanken? Aigonn bezweifelte es. Rowilan mochte kein von Grund auf schlechter Mensch sein, doch er war kaltblütig; kaltblütig auf eine Weise, dass bei dem Gedanken daran ein dumpfer Schmerz Aigonns Magen zusammenzog.
„Aigonn!“ Erschrocken stolperte er nach vorn. Die Stimme war mit dem Wind so leise und nah an seinem Ohr vorbeigerauscht, dass er reflexartig die Hand an den Kopf presste – bevor er verstand, was es bedeuten sollte. Die letzten Nebelschwaden verschwanden in der wärmer werdenden Morgensonne.
„Folge uns!“ Der Wind trug die Nebel durch das Palisadentor hindurch und Aigonn folgte ihnen, ohne darüber nachzudenken. Die Wachen stellten keine Fragen, die nachdenklichen Blicke in seinem Rücken spürte er jedoch noch immer, als nasses Gras Aigonns Hose streifte. Er folgte den sich auflösenden Schwaden bis in die Nähe einiger Holundersträucher, die seine Gestalt vor den Blicken der Torwachen verbargen. Erst in diesem Moment ballten sich die silbernen Schwaden. In den ersten Sonnenstrahlen des Tages kaum sichtbar erschien die Nebelfrau. Das erwachende Licht verwischte ihre Konturen. Aigonn erkannte, dass ihr nicht mehr viel Zeit blieb, bevor sie bis zum Abend wieder von den Wiesen verschwände.
Die Nebelfrau schwieg, als Aigonn sie grüßte. Nachdem sich ihre Blicke aber trafen, erschrak er wider Willen so sehr, dass er einen Schritt zurückwich. Ihr Blick war kalt. Aigonn hatte niemals von sich behauptet, die Gefühlsregungen der Nebelgeister verstehen und erklären zu können. Doch der offensichtliche Ärger, der hinter der Kühle ihrer Iris verborgen lag, bereitete ihm Sorgen.
„Rowilan hat eine herausragende Gabe, die Dinge zu beobachten. Das muss ich gestehen.“ Die Nebelfrau sprach steif. Aigonn wurde den Eindruck nicht los, dass tief in ihr etwas zu lodern begonnen hatte, eine Wut, eine Angst, ein Drang nach irgendetwas Unaussprechlichem – und je länger er darüber nachdachte, desto weniger wollte er es wissen.
Verunsichert blickte er in die pechschwarzen Iris der geisterhaften Gestalt. Dann fragte er zögerlich: „Mir scheint es, als ob du eine Nachricht für mich hättest, Herrin.“
„Oh ja“, erwiderte sie spitz. „Dieser Tage geschehen Dinge, die euch Menschen vielleicht ungewöhnlich erscheinen, doch seit Jahrtausenden immer wiederkehren. Würdet ihr länger leben, wüsstet ihr, dass die Toten schon in anderen Epochen zurückgekommen sind.“
„Dann ist es wahr?“ Aigonn wollte es nicht glauben. „Lhenias Seele ist in ihren toten Körper zurückgekommen?“
„Womöglich.“ Die Nebelfrau zögerte. Je mehr Augenblicke verstrichen, desto schwärzer schienen sich ihre Augen zu färben. Finsternis bekam eine neue Definition, etwas Düsteres, das man nur noch im Geiste erkennen konnte. Aigonn schauerte es. Er traute sich kaum zu fragen: „Ist … irgendetwas geschehen?“
„Ich weiß, dass du dich in diesem Moment noch zu befangen fühlst, um die außergewöhnliche Gabe zu nutzen, die dir eigen ist. Doch ich rate dir, den Blick nicht von allem abzuwenden, das du nicht verstehst!“
Sie fixierte ihn. Unwirklich, als wäre die Nebelfrau nicht Teil dieser Welt, glitt eine heftige Windböe durch ihren Körper hindurch und schien Aigonn verhöhnen zu wollen, als sie ihm die dunkelblonden Haare vor die Augen wehte. Die schwarzen Iris durchbohrten ihn. Sie schienen etwas finden zu wollen, das Aigonn weder erkannte noch verstand. Und ihm kam keinerlei Erkenntnis, als die Nebelfrau sagte: „Finde die Wiedergekehrte. Finde sie, bevor irgendein anderer es tun wird! Denn ich weiß, dass du der einzige bist, der ihre Absichten verstehen wird!“
Ihr Körper begann sich aufzulösen. Aigonn schien es, als erwache er aus einem Traum, während er einwarf: „Wo soll ich sie denn finden?“
„Es gibt einen Ort, der der Anderen Welt näher ist als der euren, den du fürchtest.“ Die Nebelschwaden verflogen im Wind. „Du wirst ihn finden, wenn du es willst.“
Damit war sie verschwunden. Eine Böe trieb den letzten Dunst über die Wiese hinaus und hinterließ lediglich den Hauch unwirklicher Beklemmung. Ein altes Gefühl, dessen Facetten Aigonn einen Herzschlag lang zu verstehen glaubte, schien in der Luft zu liegen. Solange, bis der Moment vorbeizog und Ratlosigkeit hinterließ.
Erinnerung
Es gab zahlreiche Dinge, die Aigonn in seinem Leben so gut es ging zu meiden versuchte. Einfache Belanglosigkeiten, die trotz allem ängstigen konnten. Doch als er in diesem Moment dasaß und sich immer wieder vergeblich einen einzigen Gedanken auszureden versuchte, spürte er, dass es Zeit wurde, den Schritt zu gehen, der in seinen Augen immer einer zu viel gewesen war.
Nachdenklich grub Aigonn seine nackten Zehen in die feuchte Erde. Die Grasbüschel neben dem kleinen Lehmhaus seiner Familie waren noch nass vom Regen des frühen Morgen. Die wenigen Strohhalme, die aus der Hauswand herausragten, raschelten leise, als Aigonn sich ein Stück nach hinten anlehnte.
Auf eine gewisse Weise hatte er geahnt, dass es so kommen würde. Es amüsierte ihn, dass er an einem Tag wie heute ausgerechnet zu einer solchen Erkenntnis gekommen war. Denn solange er ehrlich mit sich blieb, verstand er rein gar nichts von den Umständen, in die er sich nun verwickeln sollte. Oder vielleicht bereits verwickelt war.
Aigonn mochte mit den Nebelgeistern sprechen, seit er klein war. Das war ihm eigentlich nicht Grund genug dafür, nun eine wiederauferstandene Tote irgendwo in der Wildnis zu suchen. Doch das alles ausgerechnet an diesem einen Punkt zusammenlaufen würde – dem Teil seiner Erinnerung, den er am liebsten auf ewig gemieden hätte – hätte Aigonn niemals geglaubt.
„Es gibt einen Ort, der der Anderen Welt näher ist als der euren.“
Aigonn kannte ihn. Erst in diesem Moment war ihm klar geworden, wie tief die Nebelfrau in seine Seele gesehen hatte. Sicher, er würde ihn finden. Und schon allein diese Erkenntnis verriet ihm – auch wenn er sich dagegen wehrte – dass er ihn finden wollte. Sonst hätte er diesen Gedanken längst wieder verdrängt.
Gras raschelte neben dem kahl getretenen Pfad zwischen den kleinen Lehm- und Holzhäusern. Eine Gestalt näherte sich vorsichtig. Efoh setzte sich neben Aigonn ins Gras. Dieser sah nicht auf.
Der junge Mann beobachtete Aigonn, wartete ab, ob sein großer Bruder auf ihn reagieren würde. Doch als dieser weiterhin nur versonnen in die Leere starrte, bemerkte Efoh zögerlich: „Behlenos stellt sich das alles zu einfach vor. Ich glaube nicht, dass er sie finden wird!“
Erst jetzt sah Aigonn zur Seite. Einen Herzschlag lang starrte er seinen Bruder an, als ob er sein Kommen gar nicht bemerkt hätte, bevor er fragte: „Wen finden?“
„Lhenia. Behlenos gedenkt noch heute die Suche nach ihr zu beginnen – und erwartet von allen Männern, die in der Lage sind zu reiten, rege Mithilfe.“
Aigonn verstand die unterschwellige Botschaft dieser Worte. Nur zu gut konnte er sich vorstellen, welchen einen Mann Behlenos damit besonders ansprach. Erbost stieß er aus: „Als ob ich der Allwissende