Farold öffnete erneut die Augen, bemerkte erstmals Rogar auf dem Schoß seiner Gemahlin und wiederholte besorgt seine Frage. „Was ist los?“
„Nichts. Beruhige dich. Rogar geht es gut. Es ist wahrscheinlich das aufkommende Unwetter. Oder er konnte den Morgen nicht abwarten. Schließlich hast du ihm versprochen, ihn an seinem siebten Jahrestag mit auf die Jagd zu nehmen, auf seinem eigenen Pony.“
„Richtig“, bemerkte Farold etwas verbittert. „Wenn mein Bruder morgen rechtzeitig eintrifft, können wir auf die Jagd gehen.“
Sigrun verstand den scharfen Unterton nicht. Vorsichtig fragte sie weiter. „Die beiden Männer waren seine Gesandten?“
„Ja.“
Natürlich hatte Sigrun die Besucher an den Wappen der Schilde erkannt und sich schon gefragt, warum zwei der Männer aus dem Gefolge ihres Schwagers einen Tag früher auf der Burg eintrafen als der Rest. Farolds knappe Antwort signalisierte ihr aber, dass es jetzt kein Gespräch darüber geben würde. Sigrun akzeptierte es zunächst und so blieb ihr nichts weiter übrig, als zu mutmaßen, um was es sich bei den Neuigkeiten handelte. Allerdings erwartete sie nichts Gutes. Die guten Nachrichten teilte Farold ihr meist sobald wie möglich mit. Nur über die Schlechten musste er immer erst eine Weile brüten, bevor er sie seiner Gemahlin offenbarte. Wahrscheinlich würde sich mit dem morgigen Tag ohnehin alles aufklären, wenn sein Bruder auf der Burg eintraf.
Rurik, der jüngere Sohn des alten Grafen, lebte auf einem großen Gutshof, etwa zwei schnelle Tagesritte von der Greifburg entfernt. Der Hof selbst war mehr als nur ein Gutshof. Großräumig angelegt und von einem Wall umgeben konnte man ihn wegen seiner Palisadenumwehrung, dem starken Tor und zwei Schutztürmen auch als kleine Burg bezeichnen. Für einen jüngeren Nachkommen durchaus ein stattliches Erbe. Die Ländereien des Guts waren überaus ertragreich und sicherten selbst in schlechten Jahren dem Besitzer ein Auskommen. Doch es war im Vergleich zu Farolds Burg und der Regentschaft über die Grafschaft sowie die Nähe zum König als dessen direkter Vasall von keiner Bedeutung für die Geschicke des Reiches.
Sigrun wusste, dass der Jüngere seinen Bruder schon immer mit Neid und Missgunst betrachtet hatte. Rurik wäre allzu gerne selbst Graf geworden und seine Frau wahrscheinlich noch lieber Gräfin. Bei den jährlichen Besuchen der beiden auf der Burg wurde Sigruns Vermutung jedes Mal durch die spitzen Bemerkungen und die kleinen Wortgefechte der beiden Brüder bestätigt. Farold hingegen sah das Ganze nicht so, obwohl er die Sticheleien seiner Gäste ebenfalls wahrnahm. Er sah darin lediglich einen gesunden, brüderlichen Wettstreit, den die beiden seit ihrer Kindheit austrugen. Nicht zuletzt verdankten sie dieser Tatsache ihren Ehrgeiz und ihr Durchsetzungsvermögen.
Als Neider oder gar Konkurrenten sah Farold seinen Bruder nicht. Aus diesem Grunde legte er auch sehr großen Wert darauf, dass die gesamte Familie des Bruders einmal im Jahr für ein paar Tage seine Gastfreundschaft in Anspruch nahm. Sigrun hielt nicht viel von diesen Besuchen. In ihren Augen waren Rurik und seine Frau nur machthungrig. Sie hatte bemerkt, dass beide mit jedem Jahr ein immer neidischeres Auge auf die Grafschaft warfen und hätte schwören können, dass beide erst dann zufrieden wären, wenn sie die Greifburg ihr Eigen nennen könnten.
Rurik und seine Gemahlin hatten ebenfalls Nachwuchs. Ihr einziger Sohn, Drogo, war ein Jahr früher geboren als Rogar, wirkte im direkten Vergleich jedoch wesentlich älter. Er war von deutlich größerer und kräftigerer Statur, schien jedoch tumb und ohne einen geistigen Funken zu sein. Nicht, dass es ihm an Intelligenz mangelte. Er bewies äußerstes Geschick und Kreativität darin, neue Wege und Mittel zu finden, um eine Katze oder ein anderes hilfloses Tier zu quälen. Das galt für Drogo als Kurzweil und ein Tag war in seinen Augen erst erfolgreich, wenn er mindestens eines seiner Opfer zur Strecke gebracht hatte! Er war schlichtweg grob und ohne jegliches Feingefühl.
Diesen Eindruck hatte zumindest Sigrun von dem Jungen. Vielleicht lag sie mit ihren Annahmen auch falsch und tat den Betroffenen Unrecht, wie ihr Gemahl sie immer wieder zu überzeugen versuchte. Doch sie konnte ihre Eindrücke ebenso wenig leugnen wie ihren eigenen Schatten: Rurik und seine Gattin waren neidisch, ihr Sohn ein gefühlloser Trampel. Dennoch nahm Sigrun sich bei jeder neuen Zusammenkunft der beiden Familien vor, ihren Gästen ohne Vorurteile gegenüberzutreten. Sie bemühte sich auch sehr dies einzuhalten, doch jedes Mal wurden ihre früheren Eindrücke mit Worten und Taten bestätigt. Eines dieser Treffen stand nun unmittelbar bevor und Sigrun sehnte schon den Tag der Abreise herbei.
Die Gräfin holte sich aus diesem bedrückenden Gedankenstrom heraus, der ihre gute Stimmung umzukehren drohte. Sie schaute Farold an und das Lächeln kehrte auf ihre Lippen zurück. Noch einmal strich sie ihm durch das dunkle, mit Grau durchsetzte Haupthaar. Farold hatte die Augen geschlossen, doch er schlief nicht. Er genoss ihre liebevollen Berührungen, die seinem hämmernden Schädel gut taten.
Eine heftige Windböe löschte plötzlich einige der Kerzen und Sigrun trat mit Rogar auf dem Arm an eines der schmalen Fenster. Ihren Blick hielt sie nach oben gerichtet, um die bedrohlich nahe Gewitterfront zu beobachten.
Hätte sie nach unten gesehen, so wären ihr vielleicht die beiden Schatten aufgefallen, die den Burghof flink überquerten und dabei immer wieder das Dunkel zwischen den Gebäuden aufsuchten. Doch Sigrun sah sie nicht. Ihre Augen waren auf den Sturm des Himmels gerichtet.
* * *
Wie zwei flüchtige Schatten bewegten sich die beiden Männer im Burghof. Trotz der Schwüle der Nacht trugen sie dunkle Umhänge mit hochgeschlagenen Kapuzen. Ihre lautlosen Schritte führten sie nicht etwa auf direktem Wege über den Hof, sondern dicht entlang der Häuser. In deren Schutz eilten sie vorbei an Schmiede, Waffenkammer, Kapelle und Stallhaus, bis sie sich schließlich in der Vorburg vor der Holztür der Wachstube am Haupttor befanden.
Dort legten sie flink ihre Umhänge ab, rollten sie zusammen und verbargen sie hinter einem Fass. Beide Männer waren bewaffnet und trugen unter den Mänteln Lederrüstungen mit groben Eisenringen. Mit einem kurzen Blick über den nächtlichen Burghof und die dunklen Wehranlagen vergewisserten sie sich, dass sie unbemerkt geblieben waren, öffneten dann rasch die Tür zum Wachhaus und betraten es.
Die Wachstube bestand aus einem großen Raum, der von ein paar Lampen erhellt wurde. Die kleinen Flammen flackerten beim Öffnen der Tür im Luftzug und warfen tanzende Schatten an die Wände. Eine steile Stiege führte hinauf in die nächste Ebene, über die man auf den Wehrgang der äußeren Burgmauern gelangen konnte.
In der Mitte des Raumes befand sich eine einfache, große Tafel aus Holz, um die mehrere Bänke standen. Zwei Wachen saßen dort und erhoben sich sofort, als die beiden gerüsteten Männer zu so später Stunde die Stube betraten. Der Wachhabende griff nach seinem Schwert und war bereit es zu ziehen. Er erkannte die beiden als Ruriks Männer und wusste, dass sie Gäste seines Herrn waren, doch er blieb auf der Hut. Es behagte ihm nicht, zwei Fremde in seiner Wachstube zu sehen. Noch bevor er eine Erklärung forderte, kam einer der Eindringlinge auf ihn zu und begann in beiläufigem Tonfall zu plaudern.
„Seltsame Nacht heute, was?“
„Wie meint Ihr das?“, gab der Hauptmann die Frage zurück.
„Es ist alles so ruhig auf dieser Burg.“
„Nun, was habt Ihr erwartet? Es ist mitten in der Nacht“, kam die abfällige Antwort. „Solltet Ihr zu dieser Zeit fahrende Gaukler und ein Trinkgelage erhofft haben, so muss ich Euch enttäuschen und für verrückt erklären. Ihr befindet Euch auf der Burg des Grafen Farold, nicht in einer Dorfschenke.“
Die rüden Worte rangen dem Angesprochenen nur ein geringschätziges Lächeln ab. Gelassen ging er weiter auf die Wachen zu. Es galt ihr Vertrauen zu gewinnen. „Nein, Ihr habt Recht. Fahrende Gaukler wären wohl zu viel des Guten gewesen und das Trinkgelage hat bereits heute Nachmittag stattgefunden, zumindest für Euren Herrn.“ Diese Bemerkung rief ein leises, gurgelndes Lachen bei dem zweiten Fremden hervor.
„Selbst die Mädchen bei Euch sind so prüde, dass man glauben könnte, ihre Punzen seien selbst im Hochsommer zugefroren, so kaltschnäuzig sind sie. Es ist nicht der geringste Spaß mit ihnen zu haben. Die einzige Brust, die ich