Und sie liegt damit tatsächlich am nächsten dran. Das wissen wir seit Juni 2016. Am 10. Juni jenes Jahres haben nämlich géomètres-experts de la chambre départementale du Vaucluse, die Landvermesser des Départements, ihre Ausrüstung am Gipfel aufgebaut, und inzwischen wurde das Ergebnis ihrer Berechnungen offiziell bestätigt, und zwar vom Institut national de l’information géographique et forestière – so heißen inzwischen, seit ihrem Zusammenschluss zum 1. Januar 2012, das Inventaire forestier national (IFN) und das Institut géographique national (IGN, bekannt von den gleichnamigen Karten). Der Col du Mont Ventoux, die asphaltierte Straße vor dem »Laden«, ist von nun an 1897,10 Meter hoch. »Bis auf weiteres«, wäre man geneigt zu sagen…
Es heißt, dass die Verwaltung des Départements Vaucluse nun oben auf dem Gipfel die richtige Höhe angeben wird. Dies ist zum Zeitpunkt der Recherchen für diese Ausgabe von Der kahle Berg allerdings noch nicht geschehen. Am 16. Mai 2017 wurde jedoch ein neues Schild mit einer neuen Höhenangabe – 1.909 Meter – angebracht, nachdem das alte Schild mit der Höhenangabe 1.911 Meter seit Januar desselben Jahres verschwunden war. Im Sturm davongeweht? Oder abgenommen, um es zu ersetzen? Von Souvenirjägern gestohlen? Das Verschwinden führte jedenfalls zu einer eigenen Twitter-Kampagne unter dem Hashtag #touchepasamontventoux (Hände weg vom Mont Ventoux) mit zahlreichen Bildern des Höhenschildes oder eines seiner Vorgänger. Der Initiator hoffte, dass dies den Dieb davon überzeugen würde, das Schild zurückzubringen…
Nach der Arbeit der géomètres-experts hat sich jedoch bisher noch nichts geändert. Das Schild an dem Pfosten am Rande des Aussichtsplateaus zeigte zuletzt noch immer 1.909 Meter an. Gut für das Ego aller Radfahrer, die die Plackerei auf sich genommen haben. »Locker über 1.900 Meter« klingt bei der Berichterstattung an der Heimatfront nun mal etwas beeindruckender als »nicht ganz 1.900 Meter«.
Aber, ach, worüber machen wir uns Sorgen. Jeder, der nach vollbrachter Tat irgendeine Zahl in der Nähe von 1.900 Metern erwähnt, liegt der Wahrheit bedeutend näher als die Menschen im Mittelalter, als man noch glaubte, der Ventoux wäre 6.000 Meter hoch…
All diese Unterschiede sind darauf zurückzuführen, dass nicht jede Messung auf dem gleichen Nullpunkt basiert und dass manche Vermesser die »Passhöhe« – in diesem Fall also das asphaltierte Gipfelplateau, die D 974 – nehmen, während andere die absolute Spitze des Berges messen. Und dann stellt sich die Frage, was Kartografen, Straßenverwaltungen und andere mit diesen Daten machen. Wenn die Pläne zur »Neugestaltung« des Ventoux durchkommen, soll auch die eher inkonsequente Beschilderung entlang der verschiedenen Zufahrtsstraßen erneuert werden. Man sollte es hoffen…
Abschließend noch einige weitere Messdaten aus dem Bericht der géomètres-experts. Das Chalet Reynard liegt auf 1.417,75 Metern Höhe, die Kurve bei Saint-Estève auf 529,91 Metern und der Start in Bedoin auf 309,39 Metern.
Die Entstehungsgeschichte
Der Mont Ventoux ist aus geologischer Sicht gar nicht mal so alt. Vor etwa 60 Millionen Jahren schoben sich tief unter der Provence Erdschichten wie wandernde Eisschollen gegen- und übereinander. Ähnlich wie bei einem DIN-A4-Blatt, dessen Ober- und Unterkante man auf einer ebenen Fläche aufeinander zubewegt, sodass sich eine Falte erhebt, entstanden durch diese Erdaktivität verschiedene in Ost-West-Richtung verlaufende Gebirgszüge wie die Pyrenäen, die Baronnies, die Montagne de Lure, der Luberon, die Alpillen und eben auch das Massiv des Mont Ventoux. Die Nordseite des Ventoux ragt steil und schroff in die Höhe. Auf der Südseite indes erhebt sich der Berg viel allmählicher aus der Ebene – zum Plateau de Vaucluse hinab erstrecken sich sanft abfallende, von der Sonne verwöhnte Hänge.
Ein markantes Merkmal des Berges ist natürlich der kahle Gipfel. Wie der Untergrund des gesamten Vaucluse besteht er aus Kalkstein. Kalkstein ist das Sediment, das sich im flachen Meer, das vor Hunderten Millionen Jahren die gesamte Provence bedeckte, abgelagert hat. Als sich das Wasser später zurückzog und der Ventoux sich zu erheben begann, nahm er den einstigen Meeresuntergrund mit in die Höhe. Im Laufe der folgenden Jahrhunderte zerbarst die einstmals massive Gesteinsschicht unter dem Einfluss von Wind und Wetter zu den Milliarden von Felsbrocken, die heute die berühmte »Mondlandschaft« formen.
Übrigens hat im Süden Frankreichs nicht allein der Ventoux aus diesem Grund eine nackte Spitze aus kalkhaltigem Geröll. Wenn Sie ein Stück weiter östlich die Montagne de Lure hinauffahren (siehe Montagne de Lure: Die kleine Schwester des Mont Ventoux, S. 272), liegt der Gedanke nahe, dass deren Entstehungsgeschichte parallel zur derjenigen des Mont Ventoux verlaufen sein könnte. Und tatsächlich, so ist es: Die prähistorischen Urkräfte, die den kalksteinhaltigen Meeresuntergrund in die Höhe gedrückt und das geschaffen haben, was heute der kahle Riese der Provence ist, bildeten auf die gleiche Weise auch die Montagne de Lure. Und so ist es kein Wunder, dass sich die beiden so ähnlich sind.
Das Klima
Klimazonen. Auf dem Mont Ventoux kommen ganz besondere klimatische Bedingungen zum Tragen. Man könnte sich den Ventoux als einen mehrschichtigen Kuchen vorstellen, der beim Backen auf der einen Seite – seiner Nordflanke – durch einen falschen Luftzug im Ofen (den kalten Mistral) am unteren Rand etwas eingesunken ist.
In den unteren Lagen des Mont Ventoux herrscht ein mediterranes Klima. Auf der Nordseite endet es in einer Höhe von etwa 500 bis 600 Metern, auf der Südseite auf 800 bis 900 Metern. Die nächste Klimazone erstreckt sich auf der Nordseite über etwa 500 Höhenmeter, auf der Südseite über 300. Dann folgt ein Bereich, der auf beiden Seiten bis auf etwa 1.700 Meter hinaufreicht. Auf dem Gipfel findet man dann Bedingungen vor, denen man auch auf Grönland oder in Lappland begegnet.
Es liegt auf der Hand, dass man nicht überall genau sagen kann, auf welcher Höhe sich die Grenze zwischen einer Klimazone und der nächsten befindet. Natürliche Gegebenheiten wie Landschaftsfalten, Schluchten, die Lage eines Hanges in Bezug auf die Sonne und dergleichen schaffen vielerorts ein besonderes Mikroklima.
Für Kenner ist es faszinierend zu sehen, welche Folgen dieser Übergang von einem mediterranen Klima am Fuße des Berges zu den Polarkreisbedingungen am Gipfel für die Pflanzen- und Tierwelt hat. So beginnt tatsächlich der größte Zedernwald Europas im für diese Spezies geeigneten Klima auf Höhe des Pavillon de Roland, während im fast polaren Klima am Gipfel naturgemäß kaum etwas wachsen will. Doch wer gut hinsieht, entdeckt zwischen den Felsbrocken die prächtigsten Pflanzen und Blumen, die sonst nur im hohen Norden vorkommen.
Wind. Es ist unmöglich, ihm zu entgehen: Auf dem Mons Ventosus, dem windigen Berg, muss man darauf gefasst sein, dass es öfter mal weht. In der Provence unterscheidet man 32 verschiedene Arten von Wind; in der Tat wird niemand den Provenzalen einen Mangel an Feinsinnigkeit vorwerfen können! Für Radfahrer aus unseren Landstrichen sind solcherart Nuancierungen indes wenig geeignet: »[…] der einsame Radfahrer, der sich tief über den Lenker gebeugt seinen Weg gegen den Wind bahnt«3, lehnt sich am Ventoux vor allem gegen den berühmten Mistral, den kalten Wind, der hier immer auf der Spitze des Rennens zu stehen scheint.
Dass es auf dem Ventoux so zugehen kann, ist nicht weiter verwunderlich. Der Gipfel des Ventoux ist »ominiprésent dans les paysages«, wie die Franzosen sagen. Er erhebt sich hoch oben über dem Land, und wo man sich in der Provence auch gerade befindet: Man kann ihn praktisch immer und von überall aus sehen. Das bedeutet, dass es nichts gibt, was den Wind aufhalten würde, sodass er ungebremst auf den Ventoux zustürmen kann.
Unsere Vorfahren glaubten, dass der Mistral irgendwo auf der Nordseite des Ventoux, tief im Inneren des Bergs, in einer Höhle bei Brantes geboren wurde, die heute noch Grotte