Sonntag, 7. Juli 1996. Heute die verwegenen (Rad-)Schuhe angezogen: Es wird passieren! Das Wetter ist gut: nicht zu heiß, nicht viel Wind. Um acht Uhr sitze ich auf dem Rad; das Wasser spritzt fast aus den Bidons, die Trikottaschen sind mit ein paar Bananen und drei Packungen Sultana gefüllt. Vom Campingplatz fahre ich zuerst zurück nach Bedoin, weil ich vom Brunnen aus starten möchte, dem »offiziellen« Ausgangspunkt für die Auffahrt von der Südseite. Meistens stehen hier einige Radfahrer, aber im Moment ist niemand zu sehen. Nicht, dass es mir etwas ausmachen würde, denn ich muss es ja doch alleine schaffen. Ich steige auf, drücke den Startknopf am Tacho und fahre aus dem Dorf heraus wieder in Richtung Campingplatz, denn der liegt direkt an der Strecke.
Das eine führt zum anderen. Wie ein Haufen kleiner Jungs verbringen wir die folgenden Wochen damit, auf dem Rad Pläne zu schmieden. Natürlich habe ich den Schnepfenried nicht vergessen, aber der Ventoux, das wäre natürlich ein richtiger Berg… Wenn ich es auf meine alten Tage in einem Zug dort raufschaffen würde… Nun, ich habe keinen Zweifel daran, dass ich es irgendwie bis zum Gipfel packen würde, aber in einem Zug? Ohne Pause, ohne einmal abzusteigen? Ich bin zu schwer und habe nicht genug Talent, um das zu schaffen, nehme ich an. Und was für einen Haufen Trainin gich abreißen müsste, um…
Bis Saint-Estève läuft es prima, dann beginnt der eigentliche Anstieg: neun bis elf Prozent Steigung. Zum Glück ist es nicht heiß, aber ich mache es selbst heiß! Der Schweiß trieft aus meinem Körper und meine Handgelenke sind schwarz vor Fliegen. Ich versuche, sie zu vertreiben, aber es ist den Viechern egal – sie haben einstimmig beschlossen, mich als Mitfahrgelegenheit zu gebrauchen.
Kilometerlang schlängelt sich die Straße durch den Wald nach oben. Erst nach zehn Kilometern kommt der Gipfel in Sicht und verschwindet plötzlich wieder. Und obwohl es hart ist, fällt es mir bisher nicht wirklich schwer. Nicht absteigen, Lex, sage ich zu mir selbst, sitzen bleiben und weitertreten. Solange sich die Pedale drehen, komme ich voran, und solange ich vorankomme, komme ich dem Gipfel näher. Ich höre es mich selbst sagen, und ich werde es später noch etliche Male sagen. Laut.
Dienstag, 29. Mai 2001. Um acht Uhr brechen wir mit unseren Rädern am Campingplatz auf, zwanzig Minuten später halten wir am Ortseingangsschild von Bedoin. Wir starten unsere Radcomputer, wünschen uns gegenseitig viel Erfolg, und los geht’s: Auf zum Gipfel! Mehr als einundzwanzig Kilometer, durchschnittlich 7,7 Prozent Steigung, über 1.600 Höhenmeter. »C’est un col qui fait peur«, um mit Tour-Direktor Leblanc zu sprechen. Ich spüre die Anspannung in der Magengegend.
Jeder fährt sein eigenes Tempo, haben wir abgemacht, also fährt Karel mir sofort davon. Nach nicht mal einem Kilometer, an der Abzweigung nach Flassan, ragt direkt vor mir, stolz in der Morgensonne leuchtend, der Gipfel des kahlen Berges auf. Da muss ich rauf.
Die erste Trinkflasche ist inzwischen fast leer und ich frage mich, ob ich genug Wasser dabeihabe. Laut meinen Berechnungen müsste ich jetzt fast beim Chalet Reynard sein. Dann hätte ich fünfzehn Kilometer geschafft, also nur noch sechs weitere vor mir.
Aber was für ein Schlag ins Kontor. Das Chalet Reynard will einfach nicht in Sicht kommen. Wie kann das sein? Mein Tacho zeigt bereits 16 Kilometer an. Hier sollte es laut dem Kletterführer für Radfahrer etwas leichter sein, aber ist dem tatsächlich so? Ha, ist das nicht das Chalet?
Ja, DAS IST DAS CHALET! Und da ist auch der kahle Gipfel. Jetzt nicht aufgeben, dann wird es gelingen!
Ich habe meine Pulsuhr ständig im Blick. Die angezeigten Werte schwanken zwischen 155 und 162, genau in der Nähe meiner Schwelle. Wenn ich das durchhalten kann, sollte ich es bis nach oben schaffen können. Einfach nur weiterkurbeln, immer weiter. Sicher, es ist ziemlich steil, und doch läuft es ganz gut. Ich keuche leicht. Wirklich schnell komme ich nicht mehr voran; selbst ein fröhlich flatternder Kohlweißling überholt mich.
Noch etwa sechs Kilometer. Zu Hause bei einer Tour über die Polder würde ich darüber lachen, aber hier ist das alles andere als ein Klacks. Immerhin, es geht jetzt etwas leichter, denn es ist etwas weniger steil. Nach einem Kilometer zieht die Steigung wieder an. Zum Glück gibt es nicht viel Wind; das gibt mir die Kraft weiterzumachen. Ich kriege die Pedale immer noch irgendwie rum, aber damit ist auch schon alles gesagt. Eigentlich ist es verrückt, aber jetzt, wo ich so weit gekommen bin, ziehe ich die Sache auch durch, bis ich buchstäblich umfalle.
Am Denkmal für Tommy Simpson, auf 1.770 Metern, spüre ich eine Gänsehaut. Ich tippe mit dem Finger an die Schläfe: Sei gegrüßt, Tommy, sei gegrüßt! Ich werde dafür sorgen, dass ich auf jeden Fall heile oben ankomme.
Sehe ich dort nicht das Denkmal für Tom Simpson? Dann muss ich noch einen weiteren Kilometer durch diese unwirkliche Mondlandschaft fahren.
Als ich endlich zur Gedenkstätte komme, halte ich nicht an – ich fahre seit dem Start im Sitzen und ich werde bis zum Ende im Sattel sitzen bleiben! Nun denn, ich sage: »Mach’s gut, Tom«, denn das hat Tim Krabbé früher auch immer getan. Es ist, als ob Tom mir als Dankeschön ein wenig Antrieb verleiht, denn ich beschleunige nun tatsächlich! Wie viele Kurven müssten es noch bis zum Gipfel sein? Ich habe das Observatorium jetzt fortwährend im Blick, aber es kommt einfach nicht näher oder bestenfalls unmerklich. Bis Jetzt bin ich fast allein gefahren, aber hier oben begegne ich immer mehr Leidensgenossen. An einigen fahre ich vorbei, andere überholen mich. Ich versuche, mich an sie dranzuklemmen, gebe das Unterfangen aber schnell wieder auf. Ich muss mein eigenes Tempo fahren, um es nach oben zu schaffen.
In der letzten Kurve fahre ich ganz außen: mehr Meter Wegstrecke, weniger steil. Ich sehe noch genau vor mir, wie die Köpfe von Armstrong und Pantani hinaufkommen, direkt nebeneinander, ihre Schultern, ihre Beine, ihre Füße. Das war im Jahr 2000. Und jetzt ich. Jetzt ich!
Am Ende der Kurve, wo das Gipfelplateau beginnt, steht Karel, mit dem Fotoapparat im Anschlag. Ich hebe den Zeigefinger meiner rechten Hand, während ich die letzten Meter fahre. Ohne abzusteigen, Junge, ohne einmal abzusteigen! Nach zwei Stunden und dreiunddreißig Minuten passiere ich die Ziellinie.
Sehe ich das richtig? Ist das da vorn die letzte Kurve? Das wäre zu hoffen, denn lange halte ich nicht mehr durch. Ich muss die Kurve weit außen nehmen, denn innen ist es viel zu steil. Einmal noch aus dem Sattel gehen und ICH HABE ES GESCHAFFT! Ich lehne mein Rad an eine Mauer, nehme meinen Helm ab und lasse mich zu Boden sinken.
***
Bei jedem Radfahrer, der den Gipfel erreicht, sucht sich die aufgestaute Anspannung auf die eine oder andere Weise einen Ausweg. Der eine lässt seinen Tränen freien Lauf, der andere wird sehr ruhig, ein Dritter beginnt zu glucksen oder starrt mit leeren Augen auf die weißen Gipfel der Alpen. Jeder braucht ein paar Minuten, um seine Emotionen zu verarbeiten und bis sich der Adrenalinspiegel wieder auf ein normales Maß eingepegelt hat. Dann geht der eine zum Verkaufsstand, um sich was Süßes mit Fliegendreck zu kaufen, der andere lässt sich einen Stempel auf ein teuer bezahltes T-Shirt setzen oder bittet einen netten Franzosen, ein Foto von ihm zu machen, während er sich quasi-nonchalant vor dem Schild mit der Aufschrift »Sommet du Ventoux 1909 m« gegen sein Fahrrad lehnt. Aber egal, wie lange es dauert, sich zu erholen und zu genießen, es kommt der Moment, in dem der Zauber gebrochen wird: Jacke an, Helm auf – die Abfahrt ruft.
Auf dem Campingplatz oder im Hotel gibt es als Belohnung die Bewunderung der Familie und anderer Urlauber. Es gibt eine Dusche, ein kaltes Bier aus dem Bach hinter dem Zelt oder aus dem Drei-Sterne-Kühlschrank des Hotels, und eines ist klar: Dies ist ein Tag, den man einrahmen muss, ein Tag, den man nie vergessen wird.
***
Manche Radfahrer gehen die Begegnung mit dem Mont Ventoux schüchtern an, andere treten ihm voller Bravour entgegen, aber jeder von ihnen erlebt sein eigenes Abenteuer. Und wer viel erlebt, kann auch viel erzählen.
Der kahle Berg – Auf und über den Mont Ventoux lässt Sie als Leser »den großen Tag« von Jungspunden und Veteranen, von Fahrradtouristen und ambitionierten Radsportlern, von Einzelgängern und »Waffenbrüdern« miterleben. Dieses Buch schildert die Geschichten von Männern