»Kannst du mir einen Fahrfehler vorwerfen?«, fragte Marina.
»Noch nicht, aber auf so einer Straße kann der erste Fehler zugleich der letzte sein.«
Marina fühlte sich sicher. Schmunzelnd empfahl sie ihrer Mutter: »Schließ die Augen und genieße die Aussicht!«
»Das erinnert mich an die Worte des Zahnarztes, der zu seinem angstschlotternden Patienten sagt: »Nun beißen Sie mal die Zähne zusammen und machen Sie den Mund auf!«
Die beschwerliche Fahrt zum Leuchtturm von Teno lohnte sich. Marina und Veronika stiegen aus. Erstarrte Lavazungen strebten dem Meer zu. Asche, einst vom Vulkanschlund aggressiv hochgewürgt und ausgestoßen, bedeckte meterdick den Boden und bildete kleine Hügel, die man mit der Klinge eines Taschenmessers hätte abtragen können. Da der Wind gegen die heranrollenden Wellen blies, hatten diese besonders hohe weiße Kämme.
Marina und Veronika gingen am alten Leuchtturm vorbei und blieben da stehen, wo der Pfad endete.
»Ist es hier nicht wunderschön, Kleines?«, fragte Veronika beeindruckt.
»Man hat das Gefühl, am Ende der Welt zu stehen.«
»Es ist ein Ende. Das Ende von Teneriffa.« Veronika legte den Arm um die Schultern ihrer Tochter. »Man kommt sich hier draußen ganz klein und unbedeutend vor.«
»Die Natur lässt uns lediglich unseren wahren Wert erkennen. Wir nehmen uns alle viel zu wichtig, schlagen uns mit Problemen herum, die in Wirklichkeit völlig unwichtig sind.« Marina spielte damit auf den Zwist ihrer Eltern an, doch Veronika verstand sie nicht. Vielleicht wollte sie es auch einfach nicht verstehen.
»Ich bin froh, dich bei mir zu haben, Kleines, und all das Schöne mit dir teilen zu können«, sagte die Schauspielerin und drückte ihre Tochter innig an sich.
»Wer fährt zurück?«, erkundigte sich Marina.
»Du, wenn du möchtest.«
Marina lachte. »Du wagst dich, mir noch einmal anzuvertrauen?«
»Du hast mich gut hergebracht. Du wirst mich auch sicher wieder nach Hause bringen.«
»Na, mal sehen, was ich für dich tun kann«, meinte Marina schmunzelnd.
Sie kehrten zum Wagen zurück und stiegen ein.
20
Nach drei Tagen wollte sich Veronika ins Nachtleben von Puerto de la Cruz stürzen, doch Marina hatte keine Lust, sie zu begleiten. Sie war hier, um ihre Enttäuschung zu vergessen. Sie wollte niemanden kennenlernen! Von Männern hatte sie fürs Erste genug! Es behagte ihr auch nicht, dass Veronika so vergnügungssüchtig war, weil das die Ehepause unter Umständen erheblich verlängern konnte.
Meine Gesellschaft allein reicht ihr nicht, überlegte Marina. Die Urlaubsstimmung macht sie zugänglich für Komplimente von charmanten Männern. Wie kann ich dieser Gefahr begegnen? Bestimmt nicht, indem ich sie überall hin begleite und auf sie aufpasse. Wenn dieser Urlaub sie allerdings weich und mild stimmt, könnte Vater mit einem Versöhnungsversuch eine echte Chance haben, aber dazu müsste er hier sein.
Als Veronika zu Carsten sagte: »Ich möchte heute Abend durch Puerto tanzen. Kommst du mit?«, stand für Marina fest, dass sie ihren Vater anrufen würde.
»Bist du auch dabei, Marina?«, fragte Carsten. »Sicher bekommen wir viel Spaß.«
»Nein«, antwortete Marina.
»Warum nicht?«
»Hab keine Lust.«
»Genüge ich dir nicht?«, fragte Veronika scherzhaft.
»Doch. Ich dachte nur, ihr macht alles gemeinsam«, meinte er.
Veronika warf ihm einen Blick zu, der Marina unangenehm berührte. »Fast alles«, stellte sie richtig.
Er passt nicht zu ihr!, dachte Marina widerwillig. Sie kann es drehen und wenden, wie sie will, sie wird in drei Jahren fünfzig. Zugegeben, sie sieht jünger aus, und fünfzig ist heute für eine Frau kein Alter mehr, aber er ist bestimmt fünfzehn Jahre jünger! Vater muss her, und zwar schnell!
Als Veronika sich für den Abend zurechtmachte, sah es Marina nicht gern, dass ihre Mutter so strahlte. Veronika freute sich zu sehr auf diesen Abend. Was versprach sie sich davon? Wie weit würde sie gehen? Was würde sie Carsten alles erlauben? Wozu würde sie ihn animieren?
Sie fragte nicht noch einmal, ob Marina mitkommen wolle. Es schien ihr sehr recht zu sein, dass ihre Tochter sich entschieden hatte, daheim zu bleiben. Sie trug ein tolles Minikleid mit Spaghettiträgern. »Wie sehe ich aus?«, fragte sie und drehte sich.
»Ziemlich sexy«, musste Marina zugeben. »Du wirst die Männer anziehen wie das Licht die Motten.«
»Dann wird der Abend so, wie ich ihn mir vorstelle.«
Carsten klopfte zehn Minuten später an die Tür. Marina ließ ihn ein. Er sah umwerfend aus in seinem cremefarbenen Anzug mit den rasiermesserscharfen Bügelfalten.
»Bist du fertig, Veronika?«, fragte er und strich sich mit der Hand über das Haar.
Die Schauspielerin schnappte sich ihr Handtäschchen. »Fertig - und zu jeder Schandtat bereit.«
Marina gab es einen Stich.
»Möchtest du nicht doch auch mitkommen, Marina?«, fragte Carsten noch einmal.
»Sie macht es sich lieber hier gemütlich«, antwortete Veronika rasch. »Im Urlaub soll jeder das tun, was ihm am meisten Spaß macht.« Sie küsste ihre Tochter und fügte hinzu: »Du brauchst nicht auf mich zu werten, Kleines. Es wird bestimmt sehr spät, nicht wahr, Carsten?«
»Auf jeden Fall, denn in den meisten Lokalen geht es erst nach Mitternacht richtig los.«
»Also dann«, sagte Veronika tatendurstig. »Ich werde leise sein, wenn ich zurückkomme.«
Marina wünschte nicht, die beiden sollten sich gut amüsieren, denn das wäre nicht in ihrem Sinn gewesen. Carsten verabschiedete sich von ihr und rauschte anschließend mit Veronika ab. Die Stille, die plötzlich im Bungalow herrschte, hatte etwas Bedrückendes.
Und wieder einmal dachte Marina bitter: Das habe ich dir zu verdanken, Tommy Lindner! Diese Einsamkeit. Diese Leere. Diese Unzufriedenheit. Ich komme mir so nutzlos vor. Irgendwie entwurzelt. Warum musstest du mir das antun? Wie wunderschön hätte unsere Griechenlandreise werden können ...
Sie seufzte traurig, setzte sich und schaute geistesabwesend das Telefon an. Ich muss die Ehe meiner Eltern retten, sagte sie sich und nahm den Hörer ab.
Die Rezeption meldete sich. Marina nannte die Nummer, mit der sie verbunden werden wollte, und kurz darauf hatte sie ihren Vater an der Strippe. Die Verbindung war hervorragend.
»Du klingst so nah, als wärst du hier auf der Insel«, meinte Marina beeindruckt.
»Ist schon großartig, was der Mensch alles fertigbringt«, erwiderte Volker Hagen im fernen Deutschland.
»Wie ist das Wetter zu Hause?«, wollte Marina wissen.
»Durchwachsen.«