Katharina nahm ihren Mantel und folgte dem Chauffeur über die Treppe nach unten. Das Hochhaus verfügte zwar über einen Fahrstuhl, aber niemand benutzte ihn, weil er viel zu langsam war. Der Mercedes stand tatsächlich auf der anderen Straßenseite, wo der Chauffeur anscheinend mit viel Glück einen Parkplatz gefunden hatte, der den Ausmaßen des Wagens entsprach. Er lüftete die Mütze und öffnete der Detektivin die Tür zum Fond. Mit einer Handbewegung forderte er sie auf, einzusteigen.
Sie ließ sich bequem in die weichen Polster fallen. Das Innere des Wagens war mit dezenter Eleganz ausgestattet. Nirgends gab es grelle Farben oder aufdringlichen Luxus. Stollberg, der auf der anderen Seite saß, streckte ihr die Hand entgegen.
„Sie wissen gar nicht, wie dankbar ich Ihnen bin, Frau Ledermacher.“
Während er Katharina mit Höflichkeitsfloskeln überschüttete, musterte sie ihn voller Interesse. Der Inhaber des Unternehmens für Unterhaltungselektronik war nicht gerade schön. Die flache, kurze Nase war eigentlich nur ein Fortsatz der sehr niedrigen Stirn. Über den Augen saßen buschige weiße Brauen. Die Nasenflügel waren leicht gebläht, und das Kinn hing schlaff herunter. Nur der schmale, strichförmige Mund verlieh dem Gesicht einen Zug der Entschlossenheit und Willenskraft. Die dunklen Augen unter den weißen Brauen wirkten grimmig, und die schneeweißen Haare, die seinen Kopf wie eine Kappe umschlossen, gaben seiner Persönlichkeit etwas ausgesprochen Ungewöhnliches. Er trug einen dunkelblauen, gut geschnittenen Anzug, der seinen schlanken, durchtrainierten Körper vorteilhaft betonte.
Stollberg rückte seine Krawatte zurecht, die von ausgezeichnetem Geschmack zeugte und sicherlich eine Sonderanfertigung war.
„Möchten Sie etwas trinken?“ Er beugte sich vor und schob mit dem Finger die Trennwand zwischen dem Fond und dem Chauffeurabteil zurück. Eine Mahagoniplatte senkte sich langsam nach unten. Dahinter befand sich eine kleine Bar. Katharina wählte ein Mineralwasser.
Es war fast Mittag, und auf den Straßen herrschte reges Leben. Im Innern des Luxuswagens war es jedoch absolut still. Eine Klimaanlage sorgte für angenehme Wärme. Durch die gläserne Trennscheibe konnte Katharina sehen, dass der Chauffeur seinen Platz hinter dem Steuer eingenommen hatte. Er saß unbeweglich wie eine Statue, völlig uninteressiert an dem, was um ihn herum vorging. Die Detektivin fand es erstaunlich, dass zwar viele Menschen stehenblieben und den Wagen mit neugieriger Bewunderung musterten, aber nicht wagten, einen Blick durch die bläulich gefärbten Scheiben ins Innere zu werfen.
Stollberg lächelte gezwungen.
„Ich muss mich entschuldigen, dass ich Sie auf diese wenig angebrachte Weise zu mir gebeten habe.“
„Aber keineswegs“, antwortete Katharina. „Das ist ein durchaus angemessener Treffpunkt; voller Luxus und Schönheit.“
Er neigte leicht den Kopf, und sein Lächeln schien etwas gelöster.
„Was ich Ihnen heute anvertrauen werde, muss vollkommen unter uns bleiben. Aus diesem Grund konnte ich nicht zu Ihnen in die Wohnung kommen, und eine Verabredung in meinem Büro wäre ebenfalls zu auffällig gewesen. Ich habe viel von Ihnen gehört und ich weiß, dass Sie ein fähiger und zuverlässiger Mensch sind. Und das ist mir die Hauptsache. Ich brauche jemanden, auf den ich mich absolut verlassen kann.“ Katharina dankte mit einem Kopfnicken für sein Vertrauen und wartete auf den Rest der Geschichte. „Frau Ledermacher, unter meinen Mitarbeitern verbirgt sich ein Spion, der die Konkurrenz über alle meine Planungen informiert. Das Ergebnis ist natürlich, dass die anderen Firmen ihre Produkte mit Neuheiten, die ich ausgearbeitet habe, auf den Markt bringen, bevor ich dazu komme.“ Das Lächeln verschwand. „Das muss aufhören“, knurrte Stollberg. „Und zwar sofort.“
„Geht das schon lange so?“
„Mehrere Monate.“
„Dann haben Sie inzwischen bestimmt einen Verdacht.“
Stollberg schüttelte verneinend den Kopf.
„Nein“, gab er zurück. „Das einzige, was ich weiß, ist, dass es sich um einen Mitarbeiter in meinem persönlichen Entwicklungsbüro handeln muss, und zwar um einen der Ingenieure. Es sind vier. Dietrich Colditz, Felix Wuttke, Teodor Gröne und Helmut Bente. Aber ich habe keine Ahnung, welcher von den Männern der Verräter ist.“
„Und wie kommen Sie darauf, dass es sich nur um einen dieser vier Ingenieure handeln kann?“
„Ich habe bereits selbst Nachforschungen angestellt“, antwortete er. „Ich habe selbstverständlich auch ... äh ... sagen wir, Beobachter bei den Konkurrenzfirmen. Diese Leute haben inzwischen herausgefunden, dass die Informationen durch einen in unseren Kreisen ziemlich bekannten Spion geliefert werden, der aber so geschickt vorgeht, dass er bisher noch nicht geschnappt werden konnte. Er heißt Eduard Zerban. Früher arbeitete er für die Stasi, doch nach dem Mauerfall musste er sich nach einer neuen Einnahmequelle umsehen. Deshalb verlegte er sich auf Industriespionage. Vor kurzem habe ich einen meiner Mitarbeiter, der im Außendienst tätig ist, gebeten, von Zerban einen Bericht über eines meiner Patente zu kaufen. Er sollte vorgeben, er handle für eine ausländische Firma. Es hat mich ein kleines Vermögen gekostet, aber das Resultat war nicht uninteressant. Als wir den Bericht eingehend studierten, haben wir festgestellt, dass die enthaltenen Ideen nur aus dem Entwicklungsbüro stammen konnten, von dem ich Ihnen erzählt habe.“
„Ich verstehe“, murmelte Katharina. „Und keine der Ideen war inzwischen an eine andere Abteilung ihrer Firma weitergegeben worden?“
„Nicht einmal an die allgemeine Entwicklungs- und Forschungsabteilung. Ich habe dann Colditz, Wuttke, Gröne und Bente gründlich beobachten lassen. Trotzdem ist es mir nicht gelungen, festzustellen, auf welche Art und Weise der Spion mit Zerban in Verbindung trat. Es stimmt natürlich, dass dieser Zerban sehr gerissen und auf diesem Gebiet ein alter Hase ist. Aus diesem Grund habe ich mich auch entschlossen einen Privatdetektiv einzuschalten, und meine Wahl ist auf Sie gefallen. Wir werden uns für Sie einen falschen Namen ausdenken, am besten einen italienischen, und dann können Sie an meiner Seite arbeiten.“
„Gut. Dann nenne ich mich Francesca Rossi. Aber was ich über die Herstellung von Elektronikartikeln weiß, ist nicht der Rede wert, und ...“
„An diese Einzelheiten habe ich schon gedacht“, fiel ihr Stollberg ins Wort. „Ich werde meinen Mitarbeitern erzählen, dass Sie kein Wort Deutsch sprechen. Sie werden dauernd so etwas Ähnliches wie italienisch sprechen. Ich nehme an, dass Ihnen das nicht schwerfallen wird.“ Katharina stimmte schweigend zu. „Und da keiner unserer Verdächtigen italienisch spricht“, fuhr Stollberg fort, „wird Ihr Mangel an Sachkenntnis garantiert nicht auffallen. Bei uns ist es übrigens sowieso üblich, dass neue Angestellte ihre persönlichen Ansichten so lange für sich behalten, bis sie über unsere Herstellungsmethoden gründlich Bescheid wissen. Außerdem werde ich Ihnen erklären, dass Sie zurzeit deutsche Sprachkurse besuchen, und dass Sie nicht an unserer Diskussion teilnehmen wollen, bevor Sie unsere Sprache vollkommen beherrschen. Ich biete Ihnen zweitausend D-Mark pro Woche zuzüglich Spesen. Was halten Sie davon?“
„Ich nehme den Vorschlag gerne an, Herr Stollberg. Haben Sie zufällig ein Foto von Zerban da?“
Wortlos öffnete er ein verschlossenes Fach neben der kleinen Bar und zog eine schwarze Aktentasche heraus.
„Hier drin finden Sie sämtliche Fotos und andere Informationen, die Ihnen in dieser Angelegenheit nützlich sein können. Hier ist nicht nur das gesamte von uns gesammelte Material über Zerban enthalten, sondern auch über unsere vier Verdächtigen, unter anderem auch ihre Fingerabdrücke. Kommen Sie morgen früh um zehn Uhr zur Fabrik und fragen Sie nach mir persönlich! Auf Wiedersehen, Frau Ledermacher. Ach ... ich habe ganz vergessen ...“ Er fasste mit der Hand in die Brusttasche seines Jacketts und zog einen Briefumschlag hervor. „Eine kleine Vorauszahlung“, erklärte er. „Jetzt kann ich Ihnen nur noch recht viel Erfolg und Glück wünschen.“
Er klopfte zwei Mal gegen die Trennscheibe. In den Chauffeur schien wieder Leben zu kommen. Er sprang auf und öffnete die Tür. Einige Augenblicke später fuhr der Mercedes