In der Vorweihnachtszeit zogen überall auf der Welt Friede und Güte in die Herzen der Menschen ein. Kinderaugen strahlten in froher Erwartung bei dem Gedanken an die kommenden Festtagsfreuden. Und gleichzeitig vollzog sich vor aller Augen eine erstaunliche Wandlung: Von einem Tag zum anderen entwickelten sich die Erwachsenen zu außergewöhnlichen Jongleuren, die geschickt eine Unmenge von Paketen und Päckchen, übereinander und nebeneinander aufgestapelt, in ihren Armen durch die belebten Straßen balancierten.
Privatdetektivin Katharina Ledermacher stand am Ende eines Flurs, im obersten Stock eines riesigen Apartment-Hauses, das in der Nähe der Spree lag, und beobachtete einen der großzügigen Vertreter des Weihnachtsmanns auf Erden. Der hohe Turm von Paketen, den er vor sich hertrug, versperrte ihm die Sicht und hinderte ihn daran, die Detektivin zu bemerken. In diesem Fall konnte sie wenigstens unbesorgt auf ihrem Posten bleiben. Sonst musste sie sich jedes Mal, wenn eine fremde Person auftauchte, schleunigst in Bewegung setzen und vorgeben, ganz unbefangen auf den Lift zuzugehen. In dem Stockwerk, in dem sie sich befand, lagen nur fünf Wohnungen, aber es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen.
Zwei oder drei Mal war sie sogar gezwungen gewesen, tatsächlich den Aufzug zu benutzen, da man ihr höflich die Tür aufgehalten hatte. Wohl oder übel war sie also einige Etagen tiefer gefahren und dann so schnell wie möglich auf ihren Platz zurückgekehrt. Beharrlich bezog sie wieder Posten vor der Tür mit dem Schild „Eduard Zerban“. Sie hatte nur den einen Wunsch, dass die Person, die sie in den Lift hatte steigen sehen, nicht wieder auftauchen möge. Dann wäre ihr nämlich lediglich die Möglichkeit geblieben, eine zerstreute Frau zu spielen, die sich nicht mehr daran erinnerte, in welchem Stockwerk die Bekannte wohnte, die sie besuchen wollte. Den Namen der Bekannten hätte sie natürlich auch aus der Luft greifen müssen.
Katharina lächelte, als sie daran dachte, wie sich ein Kollege von ihr, ebenfalls ein Privatdetektiv, in einem ähnlichen Fall aus der Affäre hatte ziehen wollen. Als er bei der Überwachung einer Wohnung überrascht wurde, kam er auf die dumme Idee, vorzutäuschen, sich eingehend für den Klingelknopf zu interessieren.
„Der funktioniert wohl nicht?“, fragte er den Hausmeister.
Dieser hatte entgegenkommenderweise gleich die Probe gemacht und anhaltend auf den Knopf gedrückt. Einen Augenblick später fand sich der tüchtige Detektiv Auge in Auge mit der Person, die er unauffällig hätte beschatten sollen.
Gegenwärtig riskierte Katharina nicht viel, denn um sie herum schien alles drunter und drüber zu gehen. Leute hasteten an ihr vorbei, um noch dies oder jenes für das Weihnachtsessen zu besorgen. Mit lauter Stimme leierten sie die Liste ihrer Einkäufe herunter, um ja alles im Kopf zu behalten und nicht wieder die Hälfte zu vergessen. Andere stürzten in höchster Eile in ihre Wohnungen, um die Geschenke für ihre Kinder zu verstecken. Von Zeit zu Zeit öffnete sich eine Tür, und bei dem verheißungsvollen Duft der gebratenen Gans, der Katharina dann jedes Mal in die Nase stieg, lief ihr das Wasser im Mund zusammen. Zu allem Überfluss hatte sie ihren Mantel im Wagen gelassen, weil sie glaubte, dass das Gebäude wie üblich überheizt sei, und da sie in der Lage sein wollte, sich so frei und ungehindert wie möglich zu bewegen. Jetzt fror sie erbärmlich in dem eiskalten Korridor. Katharina zuckte plötzlich zusammen, als sie die Tür des Aufzugs im unteren Stockwerk zugehen hörte, und vernahm, wie der Luft mit einem summenden Geräusch nach oben schwebte. Das bedeutete, dass jeden Moment ein unwillkommener Gast hier erscheinen würde.
Katharina setzte sich in Bewegung, den Kopf gesenkt, die Hände auf dem Rücken, schritt sie mit unnahbarem Gesicht schnell auf die Treppe zu. Der Passagier des Lifts, der im gleichen Augenblick ausstieg, schien nicht sonderlich erstaunt darüber, dass sie offensichtlich vorhatte, siebzehn Stockwerke zu Fuß zu bewältigen, während der Aufzug bereits startbereit auf der gleichen Etage hielt.
Sobald sie aus dem Blickfeld des Störenfrieds verschwunden war, unterbrach sie ihren Lauf und fuhr fort, auf der Stelle zu treten, umso das Geräusch allmählich verhallender Schritte vorzutäuschen. Dann stieg sie einige Stufen empor und warf einen Blick auf den Gang. Gerade rechtzeitig, um feststellen zu können, dass der Unbekannte unter beträchtlichen Mühen einen Schlüssel in das Schloss der Tür gleiten ließ, die sie unter Beobachtung hatte.
Sofort trat sie wieder zurück und lauschte aufmerksam. Als sie das Öffnen der Tür hörte, riskierte sie einen weiteren Blick. Während der Mann, ohne sich umzusehen, die Tür hinter sich zuschlug, überquerte sie den Korridor. Wenig später gelang es ihr, einen ihrer Dietriche in das Schloss zu stecken. Es funktionierte nicht mehr, obwohl es scheinbar richtig eingeschnappt war. Nun musste sie im geeigneten Augenblick nur noch die Tür nach innen stoßen, um in das Apartment einzudringen. Katharina hatte den Besucher sofort erkannt, während er sie überhaupt nicht beachtete. Die Detektivin beschloss, ihren Eintritt in die Wohnung noch etwas hinauszuschieben und presste ihr Ohr gegen die Türfüllung, in der Hoffnung, möglicherweise eine interessante Unterhaltung zu belauschen. Aber sie hörte nur das Geräusch eines Fensters, das mit lautem Knall geschlossen wurde, und danach eilige Schritte.
Nachdenklich runzelte sie die Stirn und kam zu dem Schluss, dass es besser sei, unverzüglich zu handeln. Katharina stieß die Tür auf und wagte sich entschlossen in den Flur der Wohnung, der nur durch einen schwachen Lichtstrahl erhellt wurde, der durch einen Türspalt am anderen Ende des Ganges drang. Vorsichtig ging sie weiter, als plötzlich die Tür aufgerissen wurde und der heimliche Besucher heftig mit ihr zusammenstieß. Er taumelte rückwärts und fiel zu Boden.
„Gewöhnlich entschuldigt man sich, wenn man andere Leute anrempelt, Herr Colditz“, bemerkte sie gelassen.
Der Mann musste sich auf dem Boden abstützen, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Verdutzt musterte er die Detektivin.
„Sie?“, stieß er schließlich hervor. „Was machen Sie hier?“
„Ich glaube, das müsste ich eher Sie fragen“, gab Katharina entrüstet zurück und stützte die Hände in die Hüften.
Dietrich Colditz war das, was man allgemein als schön bezeichnete. Er hatte blonde Haare und große schwarze Augen, die etwas ungemein Verführerisches ausstrahlten. Sein Kinn wirkte fest und energisch. Die schmalen Wangen unter den geschwungenen Backenknochen zeugten davon, dass sich der Mann erfolgreich an seine Diät hielt. Lediglich die kleine, etwas zu breit geratene Nase tat der Regelmäßigkeit seiner Züge Abbruch. Trotzdem wirkte er auf Frauen unwiderstehlich. Er trug einen Smoking mit weißer Weste. Eine rote Krawatte gab seinem Anzug den letzten Pfiff.
Katharina bemerkte, dass er krampfhaft nach einer passenden Antwort suchte, aber das einzige, was ihm einfiel, war ziemlich banal.
„Das geht Sie gar nichts an.“
Er stand auf, klopfte sich den Staub von der Kleidung und baute sich trotzig vor Katharina auf. Sie lächelte.
„Jetzt werde ich mal einen Blick in das Zimmer da drüben werfen“, kündigte sie an.
Sie machte einen Schritt nach vorn. Er beobachtete sie mit finsterer Entschlossenheit, während sie ihn ganz sanft zur Seite schob. Als sie sich wieder zu ihm umdrehen wollte, schlug er mit einer Vase zu, die er von dem kleinen Schrank genommen hatte. Er hatte auf ihren Hinterkopf gezielt, aber ihre abrupte Bewegung rettete sie. Die Vase sauste an ihrem rechten Ohr vorbei. Es gelang ihr, einem weiteren heimtückischen Schlag auszuweichen, dann verpasste sie ihm einen kräftigen Schlag an die Schläfe. Seine Hand öffnete sich und die Vase polterte zu Boden. Der Mann sackte zusammen. Gedankenvoll betrachtete Katharina ihr Opfer.
Dietrich Colditz befand sich im Land der Träume und würde wohl auch noch einige Zeit dort verweilen. Seufzend ging sie auf den Salon zu. Das breite Atelierfenster gab den Blick auf die Spree frei. Widerstrebend wandte sie ihre Augen von der herrlichen Aussicht und blickte auf den leblosen Oberkörper, der über dem großen Metalltisch hing. Der Mann saß auf der äußeren Kante des Stuhls. Die eigenartig abgewinkelten Arme hingen an den Seiten herunter. Jede Hand umklammerte den Griff einer Schublade. Die linke Wange des Toten ruhte auf der Schreibtischplatte. Seine Augen waren weit geöffnet. Er bot keinen sympathischen Anblick. Seine kleinen schwarzen Augen lagen eng nebeneinander. Die Nase war platt, und der riesige Mund, reichte beinahe