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Das Telefon läutete. Noch immer vollkommen von Müdigkeit umfangen, vergrub Katharina Ledermacher ihren Kopf in die Kissen und sandte ein Stoßgebet zum Himmel, dass das Geräusch endlich aufhören möge. Doch an Schlaf war sowieso nicht mehr zu denken. Ihr Blick fiel auf den Wecker. Die Zeiger standen auf Viertel nach acht.
Stöhnend richtete sich Robert Tillmann auf und stieg gähnend aus dem warmen Bett. Katharina bewunderte ihren Lebensgefährten für die Tat.
Mit beiden Händen hielt er sich die Ohren zu und ging Richtung Schlafzimmertür. Er war noch immer ganz verschlafen. Plötzlich blieb er stehen. Der Fußboden schien ihn magisch anzuziehen. Taumelnd hielt er sich am Schrank fest, um sein Gleichgewicht wiederzufinden. Dann machte er einen weiteren Schritt vorwärts, obwohl er von dem reichlichen Alkoholkonsum des Vorabends noch ganz benebelt war.
Katharina richtete sich im Bett auf, stopfte sich das Kopfkissen in den Nacken und verfolgte interessiert Roberts verzweifelte Anstrengungen. Als er schon über die Hälfte des endlos scheinenden Weges zurückgelegt hatte, kapitulierte er. In höchster Eile drehte er sich um und rannte auf das rettende Bett zu. Wie ein Mehlsack plumpste er hinein.
„Na“, sagte sie ein klein wenig schadenfroh. „Du hast offensichtlich gestern Abend ausgiebig gefeiert. Mit welchen Mitteln hast du dich denn in diesen bemerkenswerten Zustand versetzt?“
„Champagner ... Whisky ... Wodka. Ooooh ... Ich habe entsetzliche Kopfschmerzen.“
Katharina schüttelte den Kopf.
„Ja, das ist natürlich übel. Man soll nie so viel durcheinandertrinken, das habe ich dir schon immer gesagt.“
„Ach! Erst ... erst habe ich mich ganz gut an deinen Rat gehalten, aber dann ... dann habe ich ... Na ja, hauptsächlich war es der Wodka, der mir so ...“
Katharina warf einen wütenden Blick auf die Schlafzimmertür, hinter der das Telefon immer noch läutet.
„Soll ich dir ein Alka Seltzer bringen?“
„Ja, bitte. Ich fühle mich, als hätte ich eine riesige Bleikugel im Magen. Wenn ich mich nur davon befreien könnte.“
„Das ist ganz einfach“, beruhigte sie ihn. „Alles, was du dazu brauchst, ist ein bisschen Fantasie. Du musst dir alles, was ich jetzt sage, bildlich vorstellen.“
„Gut. Fang an!“
„Eine Erdbeertorte mit Schlagsahne, mit einer Schicht Sauerkraut überzogen, darüber Senf, dann eine Lage Schokolade und das Ganze mit Heringen garniert.“
Das Ergebnis ließ nicht lange auf sich warten. Mit einem Sprung war Robert aus dem Bett und raste auf das Badezimmer zu. Katharina lachte, stand auf und ging in den Flur. Das Telefon klingelte noch immer. Katharina nahm den Hörer ab.
„Ledermacher“, meldete sie sich.
„Hier Reese. Ich habe eine neue Leiche für Sie. Frau Colditz wurde bewusstlos in ihrer Garage gefunden. Alle Türen waren geschlossen. Der Motor ihres Wagens lief. Es war bereits so viel Kohlenmonoxid in ihre Lungen eingedrungen, dass sie starb, ohne das Bewusstsein wiederzuerlangen.“
10
Katharina fühlte sich immer noch müde, als sie ihren Wagen vor der Villa parkte. Mit einem Blick auf ihre Armbanduhr stellte sie fest, dass es gerade erst halb neun war, und sie hätte am liebsten ein Königreich für ein Bett geboten. Die Beamten, die vor dem Haus ihren Dienst versahen, hatten ihre Anweisungen erhalten und ließen die Detektivin ohne Schwierigkeiten auf das Grundstück. Als sie in die Garage kam, entdeckte sie Kommissar Reese. Er sagte ihr, dass er vier Stunden lang geschlafen habe und jetzt wieder völlig wach sei.
„Sie Glücklicher“, meinte Katharina. Dann fragte sie ohne Übergang: „Wo ist die Leiche?“
Er hob die Schultern.
„Ich nehme an, in der Charité. Der Notarzt hat versucht, sie wiederzubeleben, weil sie noch schwach atmete. Aber es hat nichts geholfen.“
Katharina sah sich interessiert um. Die Garage hatte nur ein Fenster, das auf der Rückseite lag. Der Wagen war noch da.
„Wer hat sie gefunden?“
„Einer meiner Leute sollte die üblichen Routinebefragungen durchführen. Sie wissen schon: Wo sind Sie geboren? Wie alt sind Sie? Ein sehr pflichtbewusster Mann. Er war schon um acht Uhr auf den Beinen. Stellen Sie sich das einmal vor: am ersten Weihnachtsfeiertag!“
„War das Garagentor geschlossen?“
„Natürlich.“
„Ich meine abgesperrt.“
„Ja klar. Das ist ein elektrisches System, wie bei den Haustüren. Im Innern befindet sich ein Knopf und außen ist auch einer. Sie funktionierten beide nicht mehr. Mein Mitarbeiter hörte innen den Motor laufen. Da hat er kurzerhand den Riegel gesprengt.“
Katharina ging nachdenklich auf den Knopf im Inneren der Garage zu, der betätigt werden musste, um das Tor zu öffnen. Sie drückte. Nichts geschah.
„Ich habe es Ihnen doch gesagt“, rief Reese ihr kopfschüttelnd zu. „Die Anlage ist blockiert.“
„Was ist mit der Tür, die zum Garten hinausführt?“
„Sie war verschlossen. Frau Colditz hatte ihren Schlüsselbund im Schlafzimmer gelassen. Als sie ihren Wagen in der Garage abstellte, hatte sie offenbar die Absicht, durch das große Tor hinauszugehen.“
„Haben Sie Anzeichen für eine gewalttätige Auseinandersetzung gefunden?“
„Die Verletzung am Hinterkopf muss sie sich wohl zugezogen haben, als sie fiel.“
„Wie haben Sie Frau Colditz gefunden? Lag sie auf dem Rücken?“
„Nein, auf dem Bauch, und ...“ Reese brach mitten im Satz ab. „Warten Sie! Irgendetwas stimmt da nicht. Wenn sie tatsächlich versucht hat, vor dem tödlichen Kohlenmonoxid zu fliehen und dann ohnmächtig gestürzt ist, dann hätte sie doch eigentlich auf dem Rücken liegen müssen. Wahrscheinlich hätte sie sich auch Blutergüsse zugezogen. Also ...“
„Wie sahen ihre Fingernägel aus?“
„Normal.“
„Waren einige Nägel abgebrochen,