»Nenn sie nicht so.«
»Oh Mama, chill mal!« Doch eigentlich hatte Mama mal wieder recht. DDD machte mir ab und zu Überraschungsgeschenke, von denen ich mich, schwach und gierig, wie ich nun mal war, bestechen ließ. Die armen Birnenbäume waren von mir verraten worden. Für einen dummen Flachbildschirm, auf dem gerade ein paar Mädels ihre halb nackten, perfekten Hintern zu dem letzten Song von Pharrell Williams schüttelten.
»Also, ist ja auch egal, aber ich fand den echt nett!«
»Wen?« Von wem redete meine Mutter eigentlich?
»Den Finnen! Ich hatte einen Finnen in der Parallelklasse, Matti hieß der. Wenn er redete, klang es auch so wie bei Fynn. In den war ich mal …«
»Dieser Finne hier weiß jetzt, dass du gegen deine beknackte Schwester keine Chance hast«, unterbrach ich sie. Ich konnte nichts gegen diesen Drang tun, gemein zu ihr zu sein. Wann ging sie endlich wieder nach unten? Musste sie nicht noch aus alten Brötchen Paniermehl herstellen oder hässliche Regale auswischen? Ich wollte endlich wieder auf Facebook und Timos Seite nach seinen Vorlieben durchsuchen. Ob er das blonde Mädchen cool fand? Bestimmt … sie war hübsch!
»Ach, Dagmar hat ja recht, wir können eben nicht einfach mal so zwei Tage schließen, das hat der schon verstanden.«
Ob ich je eine Chance bei Timo hätte? Ich war eigentlich gar nicht so hässlich. Immer nur bisschen zu dick. Gerade so viel, dass es unmöglich war, die richtigen Klamotten zu finden.
Ich drehte mich um und sah an meiner Mutter hinab. Manche Leute verglichen sie mit Audrey Hepburn. Sie war in eine makellos weiße Konditorjacke gehüllt und ihre schmale Taille wurde von den Bändern einer weißen Schürze betont, die ihr bis zu den Fußknöcheln reichte. Sie sah so fragil und zart aus, neben ihr hätte sich jede Frau pummelig gefühlt. Dennoch ärgerte ich mich über ihre Eitelkeit; zum Brötchenverkaufen brauchte sie diese Kluft nun wirklich nicht, da die Dinger im Café Zimt noch nicht einmal selbst gebacken wurden, sondern frühmorgens zusammen mit ein paar Brotlaiben angeliefert wurden. Mit Opa waren die Mokkaschneckchen, die Creme-Igel und auch die hellen und dunklen Krokantpilze ausgestorben. Nicht einmal die »Zauberhaften« gab es noch: in feinem Zucker gewälzte Schokoladenkugeln, von denen meine Mutter so herrlich erzählen konnte, dass man dachte, sie würden einem auf der Zunge liegen.
Mein Gott, schon wieder dachte ich ans Essen. »Wann bist du eigentlich so zum Kotzen feige geworden«, blaffte ich Mama an. Ich wusste, das war fies und ungerecht, aber weil ich gegen Dagmar keine Chance hatte, bekam immer öfter Mama ab, was eigentlich für DDD bestimmt war.
»Was sagst du denn da, Charlie?« Mamas Augen sahen auf einmal ganz anders aus. Füllten die sich etwa gerade mit Tränen? »Ich wollte doch nur …«
»Und du schon mal gar nicht«, erwiderte ich scharf, indem ich Dagmars Stimme imitierte. »Du merkst nicht mal, wie sie dich vor allen Leuten runtermacht«, schnaubte ich und wandte mich dabei demonstrativ wieder meinem Laptop zu. Ich hörte, wie meine Mutter nach Luft schnappte, dann aber, ohne etwas zu sagen, die Tür hinter sich schloss. Ich schluckte.
Das machte ich in letzter Zeit ständig, Leute beleidigen, weil ich mich selber unausstehlich fand. Und Leute – das war ziemlich oft Mama. Sollte ich runterlaufen, um mich zu entschuldigen? Ich musste runterlaufen, um mich zu entschuldigen, und wollte gerade aufspringen, da sah ich mein Englischheft aus meiner Schultasche hervorgucken. Seufzend zog ich es heraus und begann mit der Inhaltsangabe einer Kurzgeschichte. Doch schon nach zwei Sätzen kaute ich ratlos auf meinem Stift. Ich fühlte mich schlecht, weil ich so gemein zu Mama gewesen war, das hatte sie nicht verdient … Um nicht mehr daran denken zu müssen, klickte ich das Videofilmchen an, das Holly-Marie gerade auf Facebook gepostet hatte. Zwei Katzen saßen auf ihren Hinterpfoten vor einem Spiegel, klatschten sich gegenseitig mit den Pfoten ab und sangen dazu ein französisches Liedchen. Ich lächelte. Gefällt mir, ließ ich Holly-Marie wissen. Holly-Marie war ganz nett. Ja, vielleicht war sie sogar so etwas wie eine Freundin für mich. Meine richtigen Freundinnen aus der vierten Klasse waren damals alle auf das coole Schiller-Gymnasium gegangen, während Dagmar meinte, mich in die Edstone-Wüste schicken zu müssen. Innerhalb von drei Jahren hatte ich Flora, Hella und Marú leider immer mehr aus den Augen verloren. Wir sahen uns selten, und wenn, dann bei Facebook oder Instagram. In meiner neuen Klasse waren die Mädchen dünn und komisch. Ich meine, ich hatte es wirklich probiert! Hatte versucht, mich nicht an diesem verdammten Reichtum zu stören, an ihren Pferden und Hausangestellten, von denen sie erzählten, an ihren Adelstiteln, hässlichen Markenhandtaschen oder ihren ultimativ gepflegten, auf französische Art manikürten Fingernägeln.
Holly-Marie knabberte an ihren Fingernägeln, so wie ich, das war schon mal sympathisch. Allerdings kannte auch sie kein anderes Thema als ihren reichen Vater und wie viel Geld er ihr jeden Monat gab.
Ich musste an meinen Vater denken, den meine Mutter hier in Godesbach kennengelernt hatte. Ganz spießig, auf der Maiwoche. War sogar in sein Atelier gezogen, dann mit ihm zurück in die Bretagne gegangen, um ihn zu unterstützen. Wobei? Etwa beim Bildermalen? Sie fand dort zunächst keine Arbeit, stand dann kurze Zeit in einer Brotfabrik am Band und als sie schwanger wurde, rastete er aus. Muss ein toller Typ gewesen sein. Ich hatte ihn schon oft gegoogelt, aber unter seinem Namen war er nicht aufzufinden. Irgendwie vermisste ich ihn und hätte ihn echt gerne getroffen und mit ihm geredet, nur mal so, obwohl ich das Mama natürlich nie sagte. Wie konnte man jemanden vermissen, den man gar nicht kannte und der wahrscheinlich auch noch, sorry, ein ziemlicher Idiot war? Sie war also mit dickem Bauch nach Godesbach zurückgekommen und tat seitdem so, als habe sie ihn vergessen. Doch das seltsame Bild mit den verschlungenen blauen Gestalten, das er für sie gemalt hatte, hing immer noch über ihrem Bett. Tja. Vergessen sah anders aus.
Ich schickte Mama eine Sprachnachricht auf ihr Handy: »Tut mir leid wegen eben. Kannst du mich gleich zur Schule bringen? Muss da noch mal hin.« Keine Antwort. Sie vergaß manchmal stundenlang, auf ihr Handy zu schauen. Aber wehe, ich hörte ihre Anrufe nicht oder beantwortete nicht sofort ihre SMS, dann wurde sie nervös.
Was machte Timo? Mein Herz klopfte schneller, wenn ich bloß an ihn dachte. Hatte er etwas Neues gepostet? Nein, er war nicht online, aber ich likte ein Klamottenfoto von Culotté, das Sydney-Aurelia gepostet hatte. Sydney-Aurelia gefällt das, meldete mein Computer und ich freute mich. Doch dann schrieb Stella-Europa etwas unter den Post. »Da willst du reinpassen, Charles? Hallo? Das sind französische Maße!« Und Stella-Europa fügte hinzu: »Sorry, Charlie, aber daraus wird wohl nix.« Immerhin ein Smiley dahinter. Ich spürte, wie sich unter meinem Zwerchfell ein sehr vertrautes schwarzes Loch auftat, das nicht gestopft werden konnte, selbst wenn ich hundert Croissants essen würde.
Ich stopfte den Skizzenblock wieder tief in die Schublade und öffnete stattdessen mein Tagebuch. Nein, mein Tagebuch war kein romantisches Büchlein mit rosa Stoffüberzug, sondern eine ganz normale Datei auf meinem Computer. Mit der Hand schreiben war mir zu anstrengend. Mathekram hieß die Datei, da würde ganz bestimmt keiner nachschauen.
Was für ein blöder Tag. Heute hab ich wieder mal einsehen müssen, wie dick ich eigentlich bin und wie perfekt Timo. Wir sind meilenweit voneinander entfernt. Er spielt in einer ganz anderen Liga! Wenn ich nicht so verfressen wäre, könnte ich ja ganz gut aussehen, aber so … Muss mich ab morgen wieder jeden Tag wiegen und endlich eine Tabelle anlegen. Ach Scheiße!!! Kriege ich sowieso nicht hin …
Es klopfte an meiner Tür. Schnell klappte ich den Laptop zu und griff wieder nach meinem Stift. Genervt schaute ich auf, wie sollte man diese blöde Inhaltsangabe schaffen, wenn man dauernd gestört wurde?
»Es gibt gleich Essen, ich habe Hühnerfrikassee für dich aufgetaut und dazu einen schönen Salat gemacht«, flüsterte meine Mutter durch den Türspalt.
»Jetzt schon?«, murmelte ich, obwohl wir nie zu einer festen Zeit aßen.
»Es ist schon Viertel nach vier.«
Na toll. Eine Stunde auf Facebook und YouTube verplempert.