Dort, wo früher ovale Tische, kleine Sesselchen und Stühle mit geflochtenen Rückenlehnen gestanden hatten, hatte DDD Plastikregale aufgestellt. Hinter einem von ihnen versteckte ich mich gerade. Sie hatte eine Reste-Rampe aus dem Café gemacht, in der man außer blassen Brötchen und Croissants auch Toaster, Thermoskannen und Strandhandtücher für den kommenden Sommer erstehen konnte, der dann doch immer verregnet war. Und dann gab es noch die Sechserpacks der platten Schokoladenhasen am Stiel, auf die ich es in diesem Moment abgesehen hatte. Die so herrlich im Mund schmolzen und mich zwar nicht glücklicher, aber dicker machen würden. Das alles hatte Tante DDD uns eingebrockt. Und sie war auch noch stolz auf ihr Werk.
»Nein, Herr Fynn«, sagte sie gerade laut, »wir können unseren Betrieb nicht schließen, wir müssen auch an unsere Kunden denken. Das ist viel zu viel Aufwand für uns. Die paar Hundert Euro behalten Sie mal schön für sich!«
Kunden? Wen meint sie denn? Die gehen doch sowieso schon alle in den Supermarkt, um Brot zu kaufen.
»Äh … tja …« Mama lächelte den Blonden entschuldigend an, »wir können ja noch einmal darüber nachdenken.«
»Nein. Ich glaube kaum, dass wir darüber nachdenken«, fuhr Dagmar dazwischen, während ihr angewiderter Blick der Visitenkarte folgte, die der Mann gerade in Mamas Hand wandern ließ. Als ob das kleine Stück Papier eine giftige Kröte wäre. »Und du schon mal gar nicht, Marion!«
Ich hatte größte Lust, meiner Tante eine reinzuhauen. Der Wunsch wiederholte sich in letzter Zeit sehr oft. Ich wurde schon aggressiv, wenn ich nur sah, wie sie morgens um sieben mit Aktentasche und Tee in der Thermoskanne in ihre AVG-Versicherung abzog. Dort lehnte sie den ganzen Tag lang Versicherungsansprüche ab. Bis nachmittags um vier klatschte sie den Menschen am Telefon übelste Sprüche um die Ohren und abends machte sie dann mit Mama und mir weiter.
Apropos Mama: Die drehte sich in diesem Moment wortlos um und verschwand im Durchgang zur Backstube. Das kannte ich schon. Wenn es schwierig wurde, verkroch sie sich dort.
Ich biss die Zähne aufeinander, bis ich meinen Kiefer knacken hörte. Warum landete meine Wut auf Tante Dagmar in letzter Zeit so oft bei Mama? Ich wollte ihr nicht wehtun. Und dann wieder doch. Ich atmete hinter meinem Regal tief durch, aber die Wut blieb und plötzlich wurde ich unheimlich traurig. Ich musste an die roten Bänke denken, auf denen ich als kleines Kind herumgeklettert war, und an das glatte Leder, mit dem sie bespannt waren und auf das ich meine Wange gelegt hatte. Vielleicht kamen diese Erinnerungen aber auch nur von den Fotos … wo war Mamas altes Album eigentlich? Das musste ich unbedingt mal wieder anschauen! Am besten gleich, noch vor den Hausaufgaben.
Ich hasse dich, Dagmar, und sorry … dich auch, Mama. Dann schlich ich genauso unbemerkt, wie ich gekommen war, rückwärts zur Tür und hinaus.
Ich ging einmal um das Haus und schloss die Haustür auf. Die Scharniere quietschten laut auf, wie immer. Solange ich denken konnte, wohnten wir schon über dem Café – oder über dem, was davon übrig war. Es lag am Ende einer Straße, die auf einem Platz endete. Dem Goetheplatz. Ein großartiger Name für einen von Häusern umstellten Wendekreis, auf dem genervte Autofahrer eine Runde drehten, weil sie sich verfahren hatten. Nicht gerade eine tolle Lage für vorbeilaufende Kunden, die zufällig einen Toaster kaufen wollten.
Ich machte einen kurzen Besuch in der Küche, stand planlos vor dem Kühlschrank und las zum tausendsten Mal die schlauen Magnetsprüche, die Mama an seine Tür gepappt hatte. »Was wäre das Leben, hätten wir nicht den Mut, etwas zu riskieren? (Vincent van Gogh)«. Na toll, Mama. Keine einzige dieser Weisheiten hast du jemals befolgt. Dann öffnete ich den Kühlschrank und starrte hinein, schön kalt kam es da raus. Schließlich ging ich nach nebenan ins Wohnzimmer. Warum war Dagmar heute überhaupt so früh dran, fragte ich mich, gab mir aber selbst sofort die Antwort. Es war Montag, da machte sie immer den Papierkram vom Café und nervte uns bereits am frühen Nachmittag mit ihrer Anwesenheit.
Das Zimmer meiner Mutter war nur durch eine Tür vom Wohnzimmer getrennt, eine Schiebetür, die man noch nicht einmal abschließen konnte. Warum quetschten wir uns hier auf dieser Etage zusammen – und Dagmar hatte den ganzen zweiten Stock? Noch so eine ungerechte Scheiße. Ich machte ein kleines Pupsgeräusch mit meinen Lippen. Wie wollte Mama denn jemals einen Typen nach Hause bringen, wenn jeder sie überraschen konnte? Aber das war ihr Problem. Und das mit den Typen wollte ich mir lieber gar nicht näher vorstellen. Das mit meinem Vater hatte sie ja auch nicht hinbekommen. Aber so was von überhaupt nicht! Es gab ihn einfach nicht in meinem Leben. Noch nicht mal besuchen konnte ich ihn. Echt mies.
Wo war das Fotoalbum?
Ich fand es in einem Schrank neben Mamas Ordnern, auf denen Versicherung, Bank und lauter langweiliges Zeug stand, und klemmte es mir unter den Arm.
In meinem Zimmer warf ich das Album auf das Bett, das noch genauso unordentlich aussah, wie ich es heute Morgen verlassen hatte. Rucksack und Jacke ließ ich auf den Boden fallen, ich war viel zu warm angezogen für das Sommerwetter da draußen. Schnell zog ich den Rest der Schuluniform aus. Warum trug ich eine Schuluniform, mitten in Deutschland? Dunkelblauer Rock, hellbraune Bluse. Im Winter gehörte noch ein blauer Pullover dazu. Die tollste Farbkombination der Welt, um Teenager in Depressionen zu treiben.
Ohne auch nur einen Blick in den Spiegel schlüpfte ich in meine dünne graue Schlabberhose und ein ebenso graues T-Shirt. Ich biss in das erste von drei Croissants, die ich nebenan in der Küche gefunden hatte. Von gestern. Machte nichts, Hauptsache, mein Mund war schön voll. Ich nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein, stellte MTV so leise, dass es gerade noch zu hören war, klappte den Laptop auf und loggte mich bei Facebook ein. Wenn Timo meine Freundschaftsanfrage von gestern beantwortet hätte, wäre ich der glücklichste Mensch der Welt!
Die Seite baute sich auf, mach schon, mach schon …!
Yes! Er hatte es tatsächlich getan, ich musste an mich halten, um nicht vor Freude aufzuschreien. Timo, der Schwimmer, der Coole, der hübscheste, süßeste Junge der Edstone Boarding School, war jetzt mit mir befreundet! Sein Profilfoto war der Hammer. Auf dem sah er fast noch besser aus als in echt … Seine hellblauen Augen bohrten sich in meine, als ob er mir etwas sagen wollte, und er hatte mich auch gleich eingeladen, DungeonCity zu spielen.
Als mein Blick auf die Anzahl seiner Freunde fiel, sank meine Laune schlagartig. 732. Wie konnte man 732 Freunde haben? Ich hatte 26 und sieben von denen kannte ich kaum.
Eifersucht zog wie ein Schwarm Piranhas durch meine Eingeweide. Ich war nur irgendein Mädchen vom Schulhof für ihn. Wie würde er mich seinen 732 Freunden beschreiben, wenn sie nach mir fragten? Nur mal angenommen, sie fragten nach mir. Charlotte Zimt, meinen Namen musste er jetzt ja kennen. Genannt Charles. Kupferrote, ziemlich tolle Haare, richtiger Busen und auch sonst ordentlich was dran. Würde er das wirklich über mich sagen? Jungs teilten uns in andere Kategorien ein als wir Mädchen uns selbst, so viel hatte ich auch schon kapiert. Aber Timo nicht, der war bestimmt nicht so.
Immerhin konnte ich nun ausführlich seine Profilseite durchstöbern, seine Fotos anschauen, seine zahlreichen weiblichen Freunde begutachten, seine letzten Postings durchlesen. Er fand Greenday gut? Und How I Met Your Mother? Wie witzig war das denn? Aber wer war das Mädchen mit den blonden langen Haaren auf seiner Seite, das sein duckface in die Kamera hielt. Sollte wohl verführerisch wirken … Bei mir sähe die schmollige Schnute, die sie zog, absolut bescheuert aus.
Ich seufzte mit vollen Backen und wischte einige Brösel von der Tastatur, die von meinem Kinn gefallen waren. Timo war so cool, niemals würde ich ihn ansprechen können. In der Pause schlenderte ich immer auf die Rückseite des Schlosses, ja, unsere Angeberschule war in einem ehemaligen Schloss untergebracht. Da, wo der Park anfing, hing er mit den Jungs aus seiner Stufe manchmal auf den Bänken rum. Ab und zu schaute er zu mir hinüber … und durch mich hindurch. Obwohl ich doch gar nicht so leicht zu übersehen war, mit meinen breiten Schultern, den kräftigen Beinen und dem nicht gerade schlanken Restkörper.