„Sehe ich auch so“, ließ sich Anders vernehmen.
Er parkte den BMW auf dem fast leeren Parkplatz vor dem Polizeigebäude. Um diese Zeit schienen die meisten Kollegen längst ihren Feierabend zu genießen. Lediglich die Etage mit ihrer Abteilung war noch hell erleuchtet.
Als sie ihr Büro erreichten, waren Freja Jakobsen sowie Ragnhild Eikemo, Politistasjonssjef, Leiterin der Abteilung Gewaltverbrechen, in ein reges Gespräch vertieft.
„Ich setze dich gleich ins Bild, Ragnhild. Vorher besprechen Anders und ich, was morgen früh getan werden muss.“
Ragnhild nickte und verschwand in ihrem Büro. Anders war schon dabei, die große, weiß getünchte Pinnwand zu bestücken. Ein Bild von Lunde hatte Freija auf seine Bitte hin bereits ausgedruckt, dazu ein Foto des Grev Wedels Plass mit dem Ruge-Denkmal. Anders‘ Lieblingsbeschäftigung waren die Pfeile, mit denen er Fotos und Namen verband und so eine Art Diagramm erstellte. Pia Lunde, Brage Egge und Aamund Johannessen fanden ebenfalls an der Wand ihren Platz.
„Ich schlage vor, dass wir uns morgen zunächst einmal mit diesem Journalisten befassen. Außerdem würde ich gerne von Aamund Johannessen wissen, ob Per Lunde seiner Firma in letzter Zeit weiter auf die Nerven gegangen ist.“
„Einverstanden“, entgegnete Anders.
„Und ich kümmere mich mal um den Tatort. Die Festung Akershus besteht ja vielfach aus Gebäuden, die zum Verteidigungsministerium gehören. Vielleicht kann Ragnhild ja mal ihre Connections spielen lassen und ich finde jemanden dort, der mir mit Auskünften dient.“
„Und wie ich unsere Metta kenne, legt sie eine Nachtschicht ein und wird uns morgen früh das Obduktionsergebnis präsentieren.“
Für einen Moment dachte Kjersti, dass sie sich hier bei der Osloer Polizei glücklich schätzen konnte, in einem solchen Team zu arbeiten. Ihre Eltern, die immer noch in Bergen wohnten, waren damals keineswegs erfreut, als ihre Tochter eröffnete, das Angebot aus der Hauptstadt anzunehmen und wegzuziehen. So oft, wie es ihr Dienst erlaubte, reiste sie mit der Bergensbane in die zweitgrößte Stadt des Landes und stattete ihren Eltern einen Besuch ab.
Bedingt durch den Ortswechsel ergab sich auch eine Trennung von ihrem langjährigen Freund, der in Bergen ein Architekturbüro hatte. Anfangs sprachen beide noch von Fernbeziehung, die angeblich bei so vielen Paaren gut funktionierte. Nach vier Wochen in Oslo lernte Kjersti Magnus kennen. Sie war begeistert von seinem Esprit, seiner Vorliebe für alles Kulturelle und von seinen ersten literarischen Versuchen. Diese blieben leider Versuche und so mussten die beiden und ihre Tochter Lillian, die ein Jahr darauf geboren wurde, ausschließlich von Kjerstis Gehalt als Polizeibeamtin leben. Das Leben in Oslo ist bekanntermaßen nicht billig und besonders die Suche nach einer größeren Wohnung gestaltete sich als schwierig. Sie fanden schließlich in einem Mehrfamilienhaus in Lambertseter eine relativ große, nicht unbedingt eine attraktive Wohngegend. Mittlerweile fühlten sie sich wohl, hatten genug Platz, Magnus verfügte über ein großes Arbeitszimmer und Lillian war ganz stolz auf ihr eigenes Reich. Kein Luxus, aber sie kamen gut über die Runden. Allerdings war Kjerstis täglicher Weg nach Grønland war durchaus manchmal zeitaufwändig. Kjerstis Hoffnung war, dass ihr Mann bald auf dem literarischen Markt endlich erfolgreich sein würde.
3
Als Kjersti am nächsten Morgen ihr Büro im Polizeigebäude betrat, waren schon alle anderen vor Ort. Neben Ragnhild, Freija und Anders auch Erland Hegge, der Polizeijurist.
„Guten Morgen, Kjersti“, sagte Ragnhild Eikemo. Wir haben schon jede Menge Anrufe von der Presse. Konferenz heute um 14: 00 Uhr, okay?“, fragte die Chefin.
„Geht klar. Bis dahin müssten wir Mettas Bericht vorliegen haben.“
Für Kjersti waren diese Pressekonferenzen Routine, trotzdem war sie vorher immer angespannt. Man wusste ja nie, ob sich so manch forscher Schreiberling profilieren wollte. Gar nicht leiden konnte sie besserwisserisches Auftreten im Sinne von „Wieso haben Sie noch nicht … ?“ Oder mittelmäßig verpackte Schuldzuweisungen. Klar, die Presse und die Öffentlichkeit hatten ein Recht auf größtmögliche Transparenz, sie und ihre Kollegen aber auch auf Respekt und Ruhe bei der Ermittlungsarbeit.
Als Kjersti ihren Computer hochfuhr und den Emaileingang prüfte, entdeckte sie die Mail von Øyvind Løvland.
Der Kontakt mit ihm war seit seiner Pensionierung nie abgebrochen. Sie trafen sich in unregelmäßigen Abständen zu einem Plausch über Gott und die Welt, natürlich über die Arbeit sowie aktuelle Entwicklungen in der Polizeibehörde. Kjersti schätzte Mortens Erfahrung, seinen Instinkt und so mancher Impuls von ihm hatte sie zu einer Neubewertung der aktuellen Fälle bewegt. Dabei wahrten beide den nötigen Respekt, sie durfte ihn ja nicht in laufende Ermittlungen einbeziehen. Auf der anderen Seite betonte Løvland immer wieder, es könne ja nicht schaden, den jungen Kollegen ein wenig auf die Finger zu schauen. Und Kjersti sah es als ihre Pflicht an, sich ein wenig um ihn zu kümmern, weil Øyvind nach dem Tod seiner Frau deutliche Anzeichen bot, sich abzukapseln oder in seiner Vereinsamung dem Alkohol zu verfallen.
In seiner Mail schlug Øyvind vor, sich in einem Café in Aker Brygge zu treffen. Terminlich würde er sich wie immer nach ihr richten, schließlich sei sie „ein bisschen beschäftigter“ als er.
Sie sagte ihm in ihrer Antwort zu, ihn heute Nachmittag um 17: 00 Uhr beim Uhrturm an Aker Brygge zu treffen.
„Das Verteidigungsministerium hat schon mehrmals angerufen, Kjersti. Sie hätten zu dem Leichenfund im Grev Wedels Park einige Fragen“, rief Ragnhild unvermittelt in die Runde.
„Wir auch!“, entgegnete Kjersti.
„Du meinst, ob der Fundort mit der Örtlichkeit etwas zu tun haben könnte?“, fragte Anders.
„Möglich. Wir müssen alle Puzzleteile einbeziehen. Ist Mettas Bericht schon da?“
„Ist er“, sagte Ragnhild.
„Und?“
„Du hattest Recht mit dem Wort ‚Fundort‘. Die Stelle, an der wir Lunde gefunden haben, ist nicht der Tatort.“
„Die Spurensicherung hat aber keine Schleifspuren gefunden. Also muss jemand den Toten dorthin getragen haben.“
„Also können wir von einem oder zwei Tätern, eher männlich, ausgehen. Lunde war relativ klein und kein Schwergewicht, aber einen leblosen Körper zu tragen, erfordert schon Kraft.“
„Am besten fahrt ihr jetzt zum Verteidigungsministerium“, sagte Erland Hegge.
„Ihr werdet erwartet von Oberleutnant Mads Haugland. Er ist Verbindungsoffizier und für die Kooperation mit anderen Behörden zuständig. In Sachen Pressekonferenz sprechen wir uns später ab.“
„Geht klar! Anders!“, rief Kjersti.
4
Zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden stellte Anders Nygard den BMW in der Nähe des Grev Wedels Plass ab und suchte das Gebäude, in dem der Verbindungsoffizier laut Ragnhilds Angaben auf sie wartete. Die beiden betraten das Haus in der Glacisgata und meldeten sich an. Der Soldat in dem kleinen Raum in der Art einer Pförtnerloge telefonierte. Nachdem er aufgelegt hatte, sagte er freundlich, aber in militärischer Knappheit: „Oberleutnant Haugland holt sie ab.“
Die beiden Polizisten warteten und schauten sich in dem spartanischen Eingangsbereich um.
„Hier werden also die Befehle generiert, die ich damals als Wehrpflichtiger auszuführen hatte.“
„Welcher Dienstgrad“, frage Kjersti und simulierte damit Interesse.
„Konstabel der Luftwaffe.“
„Aha“, entgegnete Kjersti, die keine Ahnung hatte, was das genau bedeutete.
Kurz darauf kam ein Mann die Treppe heruntergelaufen und kam in seinem Laufschritt gerade noch vor den Polizisten zum Stehen. Er trug die blaue Uniform