„Ob den Schulkindern, die wir gestern sahen, auch auf diesem Weg das staatliche System vermittelt und ins Gehirn gehämmert und gesichelt wird?“, fragte etwas besorgt mein Reisebegleiter. „Das kann ich mir schon gut vorstellen. Ob die auch jeden Morgen stramm zum Fahnenappell in Reih und Glied stehen müssen und dabei „Seid bereit“ und „Immer bereit!“ brüllen müssen? Wir schwiegen und schwelgten beide in unseren kindlichen Erinnerungen …
Nach circa 450 Kilometern und ungefähr zehn Stunden später erreichten wir die größte Stadt Vietnams. „Bis zur Wiedervereinigung im Jahre 1976 hieß die am Mekongdelta gelegene Stadt Ho-Chi-Minh-Stadt, zuvor noch Saigon; der Süden Vietnams wurde erst sehr spät von den Vietnamesen erschlossen; dann folgten ja schon etwas später die Franzosen und trugen dort ihren westlichen Stempel oben drauf“, wusste mein Kumpel mir zu berichten. Wir empfanden auch, dass die Stadt bei weitem nicht den Charme von Hanoi hatte und eher einer riesigen Metropole glich, welche sich auch irgendwo anders auf der Welt hätte befinden können. Und so waren wir froh, dass wir nur noch eine Nacht sowie dreiviertel des nächsten Tages Zeit eingeplant hatten, um in ihr ein wenig durch die Gassen zu schlendern. Doch es kam anders. Am letzten Tag wurde mein Kumpan krank und hatte natürlich überhaupt keine Lust auf das Gewusel der Metropole. Deshalb entschieden wir total relaxt, unsere wirklich freie Reise durch die beiden undemokratischen Staaten hinter Gittern ausklingen zu lassen.
Wir spazierten in den Zoo, sahen den armen gefangenen Tieren und ihrem tristen, traurigen Leben zu und stellten wieder einmal fest, wie wahnsinnig gut wir es doch haben. Kurze Zeit später hockte die Amsel mit verschnupftem Schnabel neben mir im Flieger zurück nach Berlin. „Und Johannes, was meinst‘, hast du irgendwie gemerkt, dass wir durch zwei Länder ohne echte Demokratie gefahren sind?“, krächzte die Amsel.
„Hm, schwierig zu sagen, eigentlich nicht wirklich. Ich denke, man muss sich ganz sicher länger in den Ländern aufhalten, um das ernsthaft beurteilen zu können. Vielleicht hättest‘ es aber gemerkt, wenn du einen Pauschalurlaub in einem all-inclusive Hotel gebucht hättest?“
15 Stunden später waren wir zurück im kühlen Deutschland. Der Herbst stand unmittelbar bevor und empfing uns bei elf Grad Willkommenstemperatur. Dabei ummantelte uns eine beinah unangenehme Ruhe. Alles lief geordnet und geregelt ab, kaum einer hupte oder raste im überhöhten Tempo mit einem Moped an uns vorbei. Berlin kam uns beiden in diesen Augenblicken eher so vor, als wären wir in einem Kurort gelandet. Als wir wenig später in meine kleine, dunkle Hinterhofbude einkehrten, fühlten wir uns noch immer etwas fehl am Platz. Ja, ganz offensichtlich fehlte uns das Licht und ich war froh, dass ich am Abend nicht einsam auf der Couch sitzen musste. Aber schon einen Tag später war ich wieder alleine in meiner Höhle, fühlte mich träge und hatte deshalb überhaupt keine Lust, in den verregneten Alltag zu gehen. Es war still um mich herum, da ich den Fernseher und das Radio einfach mal ausließ. Stattdessen setzte ich mich auf die verlassene Couch, starrte auf eine verwelkte Pflanze und beobachtete, wie sie mit gesenktem Kopf im Abseits stand und grübelte: Nächstes Jahr werde ich schon 31! Ist denn spätestens dann die Blüte meines Lebens vorbei? Sollte ich in Zukunft besser auf das Reisen verzichten und endlich so richtig sesshaft werden? Sollte ich mein geliebtes Single-Leben aufgeben und eine Familie gründen? Sollte ich mir endlich einen festen und vernünftigen beständigen Job bis ins Rentenalter hinein suchen?
Der Fernseher blieb aus und auch das Radio schwieg. All diese Fragen beschäftigten mich in diesem Moment sehr und ließen trotz größer werdender Müdigkeit nicht zu, dass meine Augenlider die Klappen senken konnten. Doch wusste ich auf all diese Fragen keinerlei Antwort und zusätzlich durchströmten weitere Gedanken mein melancholisches Gehirn. Ich dachte darüber nach, dass meine Eltern mit 21 Jahren für das erstgeborene Kind Sorge zu tragen hatten und sich kurze Zeit später sogar schon die ewige Treue schworen. Und ich? Ich bin immer noch der Vagabund …
Es vergingen einige Minuten, aber nach dieser Zeit wollte und konnte ich einfach zu keiner der mir selbst gestellten Fragen und auf nur eine dieser mit „Ja, ich will!“ antworten. Damals war es ja auch eine andere Zeit, nuschelte ich etwas lauter als gedacht vor mir her.
Einst gab es ja auch bei weitem nicht jene Möglichkeiten, welche uns in der heutigen Zeit so freiheitlich das Leben verschönern. Schon gar nicht in der DDR. Und wer weiß? Wenn meine Eltern damals die Freiheiten des Verreisens gehabt hätten, ob sie dann ihren gewählten Weg der Vergangenheit gegangen wären? Ich denke eher nicht.
Warum?
Weil meine Mutter und mein Vater im Spätsommer des Jahres 2005 in die wunderbare Toskana nach Florenz zogen, nicht weit entfernt von der berühmten Brücke Ponte Vecchio, etwas auf einem Hügel gelegen und mit sensationellem Blick auf die eindrucksvolle Kathedrale Santa Maria del Fiore, aber immer noch unterhalb des Piazzale Michelangelo, auf welchem stolz der David des Michelangelo auf die großartige Stadt blickt. Darum blickte ich wieder etwas gelassener nach vorne, denn irgendwie stärkten mich diese Gedanken und plötzlich fiel ich mit einem kleinen, schüchternen Lächeln auf meinem bedrückten Gesicht in einen tiefen Schlaf. Und plötzlich war es da — das Jahr 2011. Ich jobbte mal hier und mal da, freundete mich mit dem „Stand Up Paddling“ an und paddelte oft und immer zufrieden durch „Klein Venedig“ unweit des Berliner Olympiastadions. Zweimal besuchte ich in diesem Jahr meine Eltern in der Toskana und bei jedem meiner Aufenthalte merkte ich, wie sehr deren neue Heimat immer mehr zu meiner wurde. Bald wusste ich dann auch endlich eine Antwort auf die Fragen, die ich mir auf der Couch sitzend selbst stellte: Nein, sesshaft will ich noch lange nicht werden! Viel lieber wollte ich weit weg, ans andere Ende der Welt und so entschloss ich mich, die letzte Möglichkeit für ein Ein-Jahres-Visum9 nach Neuseeland wahrzunehmen und beantragte jenen Schriebs.
Es dauerte nicht lange, bis ich das Papier glücklich in meinen Händen halten durfte. Die Vorfreude wuchs, aber ich musste sparen. Freudig stimmte mich die Tatsache, dass ich ab diesem Zeitpunkt wie ein Pfennigfuchser leben musste, natürlich nicht. Denn etwas gönnen konnte ich mir ab diesem Moment nicht mehr und musste oft meinen appetithungrigen Magen mit den wärmenden Gedanken des baldigen Abenteuers fröhlich stimmen.
Das Jahr marschierte inzwischen wieder stramm dem Geknalle an Silvester entgegen und die bisher gesparten Kröten reichten leider nur für das Ticket zum Land der weißen Wolke. Doch immerhin. Ich brauchte jedoch noch ein paar Moneten mehr, um mir nicht gleich am Anfang der Reise einen Job angeln zu müssen. Da ich noch nicht wusste, wie lange ich in Neuseeland bleibe — es könnte ja durchaus sein, dass ich das Ein-Jahres-Visum bis zum letzten Tag ausschöpfen würde — wäre es für diesen ungewissen Zeitraum auch nicht gerade einfach, meine kleine Einraumwohnung unterzuvermieten. Deshalb beschloss ich, meine gemütliche Bleibe aufzugeben, ihren nahezu kompletten Unrat zu verkaufen und den Bonus, also meine Mietkaution, als zusätzliches Reisekapital zu verwenden. Somit war ich für meine Begriffe beinah „reich“, aber besaß nichts mehr. All das erzählte ich mit einem unglaublich befreiten Gefühl der Amsel. Mein Kumpel beendete in diesem Jahr sein Studium und wusste noch nicht so recht, in welche Richtung er nun flattern sollte. Ja, dieser Moment war einfach perfekt für uns beide. Und so entschloss sich die meist unentschlossene Amsel, und das sogar fast spontan, nach Berlin und in mein Nest zu ziehen.
6 veraltet für Thailand
7 Drechsler verarbeiten Werkstoffe wie Steine oder Muscheln
8 traditionelles Segelschiff und Hausboot
9 bis zum 31. Lebensjahr erhielt man einmalig ein solches Visum
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