Wir waren an diesem Tag schon recht früh in Halong City angekommen und ich fragte mich zum ersten Mal, da mir plötzlich bewusst wurde, wie sehr die letzten Tage mit der Amsel nur so verflogen waren, ob es von diesem Zeitpunkt an ein Gehetze durch das Land werden würde, da unser Rückflug von Ho-Chi-Minh-Stadt, ganz im Süden des Landes gelegen, etwa noch 1600 Kilometer entfernt lag und wir lediglich zwölf lächerliche Tage dafür übrig hatten!
Deshalb entschieden wir uns am gleichen Tag für einen Boottrip zu der wunderschönen Halong Bucht, die rund 2000 meist unbewohnte Inseln beheimatet. Nach kurzen und schmerzlosen „Verhandlungen“ mit dem Kapitän stiegen wir auf eine kleine, familienbetriebene und uralte Dschunke8.
Der knurrige Vater des kleinen lebhaften Mädchens war der Chef sowie zugleich Kapitän des Schiffs und seine Frau hielt sich schüchtern und putzend im Hintergrund auf. Im Vordergrund versuchte das Kind seine Schulaufgaben verpflichtend zu erledigen und wir durften es uns „frisch, fromm, fröhlich und frei“, wie dies einst der Turnvater Friedrich Ludwig Jahn zelebrierte, über Stühle und Tische springend, die ungeniert im Weg standen, gemütlich machen. Wir entschieden uns für die Reling, glotzten staunend in die Nähe und beobachteten, wie die Menschen in dieser Region direkt mit und auf dem Wasser wohnen. So schipperten wir an schwimmenden Dörfern vorbei, die aus kleinen Holzhütten zusammengezimmert worden waren und sahen viele interessante, von der Natur erschaffene, bizarre Felsformationen, bis wir in den purpurroten Sonnenuntergang hineintrieben. Dabei vergaß ich das noch am Morgen aufgekommene Gefühl des Gejagdwerdens von der Zeit.
Nach einer dreizehnstündigen Fahrt mit dem Zug erreichten wir einen Tag später die 800 Kilometer entfernte Stadt Hue. Sie liegt ungefähr zwanzig Kilometer vom Meer entfernt und direkt an einem großen Fluss, welcher als „Parfumfluss“ bezeichnet wird. Warum das fließende Gewässer diesen Namen trägt, fanden wir nicht heraus; es roch paradoxerweise nicht besonders gut und deshalb entschieden wir uns wahrscheinlich dafür, gleich am nächsten Tag nach Hoi An weiterzuziehen. Jene Altstadt, durch die ein Fluss vorbei an alten, äußerst farbenfrohen sowie gut erhaltenen, kolonialen Häusern fließt, fanden wir besonders schön. Hinzu kam ein tägliches, immer zur Dämmerung stattfindendes, wunderbares Schauspiel, bei dem die zahlreichen roten und runden Laternen eingeschaltet wurden und sich der Schatten des roten Lichtes dabei malerisch im fließenden Wasser spiegelte. Wahrhaftig, in diesem Örtchen fühlten wir uns wohl und trafen erst am letzten von den vier Tagen Aufenthalt die Entscheidung, wieder aufzubrechen und begaben uns vorerst auf einen Tagesausflug zur alten Tempelstadt „My Son“.
Dort standen wir zwischen uralten Tempeln, dem eifrigen Tourguide und einigen gierigen Touristen, die in karierten Hemden immer vor unseren Nasen herumturnten und hatten plötzlich keine Lust mehr. Wir folgten aber dennoch in einem immer größer werdenden Abstand und wie zwei pubertierende Pickelteenager dem Mob und seinem Führer. Weil wir die englischen Worte des Reiseleiters kaum verstanden und das nicht mal wegen der stets steigenden Entfernung von ihm zu uns, spalteten wir uns von der Gruppe ab und entdeckten lieber auf eigene Faust die Anlage. Schließlich legten wir uns in den friedlichen Schatten eines Baumes und schlummerten ein wenig.
Am Abend stiegen wir in einen Nachtbus in die nächstgrößere Stadt und buchten ein Hotel am Meer. Wir lungerten dort dann oft einfach am Strand rum, schnorchelten oder getrauten uns mal wieder ein Moped zu mieten. Auf diese Weise tauchten wir völlig planlos in das interessante Hinterland der Stadt ein. Nha Trang beheimatete zur Zeit unseres Aufenthalts circa 370 000 Einwohner und gefühlt doppelt so viele Motorräder. Somit bestand für uns die erste Herausforderung darin, heil aus der Metropole zu fahren. Ohne Navi und Karte schlängelten wir uns plan- und ziellos, aber in einem wirklich großen, aufregenden Abenteuer durch die überfüllten Straßen dieser Stadt. Wir rollten danach über schwingende Hängebrücken, an zahlreichen Dörfern, Feldern und Wäldern vorbei und fühlten uns beide total befreit. „Wie toll und was für ein Gefühl von Freiheit muss das denn sein, mit einem Motorrad auf eine große Reise zu gehen?“, schrie ich durch den Fahrtwind zur Amsel und wir verfielen beide zwischen angenehmen Wind und strahlendem Sonnenschein ins Schwärmen. Es war wirklich traumhaft, einfach drauf los zu fahren und dabei nicht zu wissen, wo wir landen werden. Auf diesem kleinen Weg, durch den Dschungel, gerieten wir nicht bloß einmal an dessen Ende und mussten wieder umkehren, bis wir in einen abgelegenen Ort gelangten. Als wir dort in die Nähe einer Schule fuhren, wurden wir umzingelt und fast von unseren Mopeds gerissen. Letztendlich mussten wir anhalten und dieser Moment wurde für uns beide zum bis dato schönsten auf unserer gesamten Reise.
Ja, in so viele ehrliche, strahlende, fröhlich lachende Gesichter von bestimmt fünfzehn Schulkindern zu blicken und dabei herzallerliebst in Empfang genommen zu werden. Ja, das war was ganz Besonderes. Mit weit aufgerissenen Kinderaugen musterten sie uns von oben bis unten und steckten dabei in einer uns aus DDR-Tagen bekannten Jungpionieruniform mit blauen aalglatten Halstüchern. Sie alle wollten uns am liebsten zur gleichen Zeit anfassen und grinsten uns dabei unentwegt an sowie redeten pausenlos auf uns ein. Natürlich ließen wir uns dann davon anstecken, lachten mit den Kindern zusammen und zwar so sehr, dass wir ein paar Freudentränen aus unseren verstaubten Gesichtern reiben mussten. Wahrscheinlich hatten die fröhlichen Kinder solch komische Außerirdische, wie wir beide es bestimmt für sie waren, noch nie zuvor vor ihre niedlichen Gesichter bekommen. Für ein paar Minuten genossen wir unseren „Empfang“ und mussten uns regelrecht dazu zwingen, wieder weiterzufahren. Im Anschluss daran kreuzten wir ein anderes Dorf, hielten kurz für zwei amüsierte Blicke unter einem großen, Schatten spendenden Baum und beobachteten einen kleinen Fleischerstand mit Fleischer und seiner Kost, der auf einem großen Holztisch stehend bei dreißig Grad im Schatten und unter dem Besuch tausender ekelhafter Fliegen fröhlich sein Fleisch präsentierte und wie das erst roch … Schnell machten wir uns wieder vom Acker und entdeckten wenige Kilometer später ein sehr spannendes Gefährt. Daraufhin stoppten wir unsere Räder und beobachteten einen Mann, der schwer mit seinem Motorrad kämpfte. Dies hatte er mit etwa um die 150 Kilo Bananen beladen und probierte tatsächlich, damit loszufahren. Zunächst jedoch blieb es bei einigen krummen Versuchen, bis er es irgendwie schließlich dann doch schaffte; allerdings landete er schon rund zehn Meter später mitsamt Gepäck im Graben.
Hatte der ein Glück, das wir neugierig stehen blieben und aus diesem Grund schnell zu ihm eilen konnten. Wir halfen ihm unter schweißtreibenden Körpereinsatz dabei, seinen „Lieferwagen“ aus dem Abgrund zu angeln und pflückten danach sämtliche Bananen aus der Mulde sowie von der Straße. Er bedankte sich und schien seine Ladung sowie dessen Befestigung nochmal durchdenken zu wollen, doch wollte dies lieber alleine machen, schenkte uns zwei Bananen und sagte: „Good Bye“.
Danach tuckerten wir auf irgendeinem Weg und irgendwie zurück in die Stadt. Als wir dort dann ankamen und fast 200 Kilometer auf dem Erfahrungszeiger stehen hatten, fühlten wir uns jenes Mal mit der Hektik im Straßenverkehr schon um einiges vertrauter. Selbstbewusst jagten wir unsere Roller mit 90 Klamotten durch die engen Gassen und erreichten mit pochenden Herzen sowie durchaus glücklich und unbeschadet den Motorradverleih. „Was für ein toller, beeindruckender Tag“, sagte die Amsel.
Die darauffolgende Nacht träumte ich mal wieder. Ich schwelgte in Träumen von der DDR und wie ich es als Jungpionier in Friedrichswerth nie schaffte, einen aalglatten Knoten in das blaue Halsband zu bekommen. Am nächsten Tag erzählte ich meinem Kumpel von meinem Traum und so versuchten wir beide uns nochmals Folgendes vor unsere müden Augen zu führen: „Was war denn eigentlich nochmal der Unterschied zwischen einem roten und blauen Halsband?“
Der Amsel schoss es plötzlich, wie kleine Federn vom Haupte fliegend, in sein großes Gedächtnis: „Es gab zwei Arten von Pionieren: Zum einem die Jungpioniere, welchen man ab der ersten bis zur dritten Klasse angehörte und dabei ein blaues Halsband trug sowie zum anderen die Thälmannpioniere, zu denen man ab der vierten bis zur achten Klasse zählte, wobei man ein rotes Halstuch tragen musste.“
„Kannst dich noch an den Pionierausweis erinnern?“
„Klar, hab meinen noch zu Hause.“
„Ich auch“, freute ich mich.
„Da standen doch irgendwelche bekloppten Gebote drinnen? Gä?“ „Weißt auch