England hatte gerade mal wieder ein paar kleinere Streitigkeiten mit Frankreich, weshalb einem das Glück schon zu Seite stehen musste, wenn man überhaupt Kriegsschiffe im Hafen liegen sehen wollte. Sie kamen eigentlich nur dann nach England zurück, wenn sie Nachschub an Freiwilligen für die Marine oder zur Seefahrt benötigten. In letzter Zeit war das sehr häufig der Fall, und man konnte nur vermuten, dass der Krieg für den König schlecht lief.
Freiwilliger auf einem solchen Kriegsschiff der königlichen Marine wurde man meist einen Abend zuvor, wenn das Schiff den Hafen verlassen wollte. Dann gingen kräftige Seeleute im Auftrag der Krone in die Pubs, gaben dem Wirt ein paar Golddublonen, und schlugen den bereits leicht angetrunkenen Besuchern des Wirtshauses, mit einem Enterholz, eins über den Schädel. Anschließend wurden die Freiwilligen dann aufs Schiff getragen und einfach vor der Reling liegen gelassen. Wenn genügend potentielle Mannschaft an Bord war, setzte die Stammbesatzung die Segel und fuhr mitten in der Nacht los. Nachdem der betrunkene Gast seinen Rausch an der frischen Seeluft ausgeschlafen hatte, war er ohne viel Aufhebens davon zu machen, der Kriegsmarine beigetreten. Flüchten war zwecklos, denn auf hoher See gab es außer dem Schiff, auf dem man saß, nichts als Wasser. Außerdem verpflegte der König seine Getreuen sehr gut, denn er wollte diesen elenden nicht enden wollenden Krieg endlich gewinnen. Daher hörte man nur wenige, die sich über die Einladung zur Seefahrt beschwerten, vielleicht aber auch, weil man Meuterer nur allzu schnell am Fahnenmast zum Schweigen brachte.
Manchmal wurden auch kleiner Schiffsjungen benötigt, die sich in den Gassen Londons zu Hauf finden ließen. Und kaum jemand bemerkte es oder vermisste sie, wenn diese eines schönen Abends in einem Sack verschwanden. Robert kannte die Vorgehensweise der Fänger, die sich tagsüber normalerweise nicht blicken ließen. Dann konnten man getrost seinen normalen Geschäften nachgehen, ohne befürchten zu müssen, doch noch eingetütet zu werden.
Als Robert den kleinen unscheinbaren Laden betrat, meldete eine kleine Glocke über der Tür seine Anwesenheit, trotzdem dauerte es eine ganze Weile bis jemand der Aufforderung nachkam und ihn bedienen wollte. Er nutzte die gebotene Zeit und sah sich den Laden genauer an. Offenbar handelte es sich nicht nur um einen Kramladen, wie über der Tür behauptet wurde. Denn hier waren feinste Köstlichkeiten aus aller Welt zu finden. Von frischem Obst aus Südeuropa, über Gewürze aus der arabischen und orientalischen Welt, bis hin zu Porzellan und Seide aus Indien und China. Aber daran war Robert nur nebensächlich interessiert. Er hatte von einem äußerst explosiven Stoff gehört, der seit kurzem auch in den Kriegsschiffen eingesetzt wurde. Angeblich konnten damit sogar schwere Metallkugeln mehrere hundert Meter weit geschossen werden. Robert war sehr skeptisch, und doch auch angetan von diesem Gedanken. Ein alter aber durchaus vornehmer Geschäftsmann aus Paris hatte ihm eines Abends in einem der unzähligen Londoner Pub’s erzählt, dass man dieses Pulver unter anderem in Sir Lorradal’s Kramladen in der Salsburyroad erstehen könnte - nur deshalb war er hier.
Robert schaute sich um. Er suchte nach kleinen Säcken oder Beuteln, die vielleicht Aufschluss über die Anwesenheit des Pulvers geben könnten, als die Eingangstür erneut aufging und ein kleiner Junge hereinkam Er war vielleicht zehn oder elf Jahre alt - keinesfalls älter, und er war kaum größer als zwei Säcke Korn übereinander, nur nicht so breit. Sein Haar war nass und hing ihm tief ins Gesicht. Die Kleider baumelten an ihm in Fetzen herunter und Schuhe besaß er nicht, was aber für Jungs in seinem Alter nicht ungewöhnlich war. Allerdings war er wohl gerade mit samt seinen Kleidern in den Fluss gesprungen. Das wiederum war schon etwas sonderbar. Zwar sah man sehr oft die Kinder Londons in der Themse schwimmen, doch immer nur nackt. Dieser hier war aber so nass, dass die Pfütze, die er hinterließ, bereits zu den Mehlsäcken kroch.
Der Knabe stand im Raum und schaute sich um, sagte aber nichts, als der Besitzer endlich durch eine Tür im hinteren Bereich in den Laden trat. »Entschuldigen sie bitte, Sir. Ich werde mich sofort um sie kümmern. Lassen sie mich nur kurz den Knaben bedienen« sagte er zu Robert.
»Machen sie nur. Ich habe Zeit« erwiderte Robert.
Hastig ging der beleibte Mann in den Raum hinein, und auf den Jungen zu. »Was machst du hier, du Lümmel? Raus, aber schnell, bevor ich die Rotröcke kommen lasse« sagte er und versuchte den Jungen zu greifen, der daraufhin Reißaus nehmen wollte.
Doch Robert kam beiden zuvor. Mit einer Hand stoppte er den rundlichen und gedrungenen Ladenbesitzer, mit der anderen griff er nach dem Jungen, um ihn am Fortlaufen zu hindern. »Entschuldigen sie genauso. Aber was hat der Junge ihnen getan, außer ihren Fußboden zu überschwemmen?« fragte Robert, womit Sir Lorradal nicht gerechnet hatte. Irgendwie erinnerte ihn der Junge an seine eigene Kindheit.
»Sie sind wohl nicht von hier, wie?« fragte er, wartete aber nicht auf Robert’s Antwort, sondern sagte selbst: »Nun, in Anbetracht seines Erscheinungsbildes wird das Überschwemmen meines Fußbodens schon ausreichen, um ihn vor die Tür zu setzen. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser junge Herr mir den Schaden mit einem Einkauf aufwiegen wird. Wenn sie also nichts dagegen haben, werde ich ihn auf die Straße setzen.«
Der dicke Mann schob Robert’s Arm beiseite und ging erneut auf den Jungen los. Der befreite sich gleichfalls gekonnt aus Robert’s Griff und rannte hinter seinem Rücken in die Stube hinein. Er wollte gerade zur Hintertür hinauslaufen, als Sir Lorradale mit einem überaus geschwinden Satz, den man ihm gar nicht zugetraut hätte, den Schopf des Jungen schnappte und ihn zurück zur Eingangstür beförderte. Sir Lorradale öffnete sie, packte den Jungen unter den Armen und holte zum Wurf aus, der den Jungen mit Leichtigkeit zwei oder drei Meter vor die Tür geschleudert hätte, als ihm Robert abermals zuvor kam.
»Wenn sie nichts dagegen haben?« wiederholte Robert die Frage von Sir Lorradal. »Nun … ich habe. Und es wird mir gleichfalls eine Freude sein, ihnen den Schaden zu ersetzen, wenn sie dafür den Jungen vom Schopf lassen.«
»Dann gehört er also zu ihnen. Warum haben sie das denn nicht gleich gesagt? Das habe ich nicht gewusst. Entschuldigen sie vielmals« sagte er und ließ den Jungen los. »Sie wissen sicher, wie es mit diesen Straßenkindern ist. Immerzu klauen sie nur, oder bringen alles durcheinander, und immer hat man nur den Schaden«, bedauerte Sir Lorradale sich selbst. Robert wusste tatsächlich sehr genau, wie es mit den Straßenkindern ist - er war früher selbst eins gewesen, und dass sie noch immer genauso schlecht behandelt wurden, ärgerte ihn ziemlich.
Jetzt, da der kleine kräftige Mann vom Leib des Jungen abließ, sah man eine streifenförmige Verletzung im Gesicht des Knaben. Daneben waren überall Schmauchspuren zu sehen. Robert erkannte, dass diese Spuren nur von dem besagten schwarzen Pulver stammen konnten. Aber die einzigen, die sich bisher solch einer Waffe bedienen durften oder konnten, waren die Angestellten der britischen Krone. Das waren zum einen die Fänger, zum anderen die Soldaten, die im Volksmund nur Rotröcke genannt wurden. Wahrscheinlich hatte der Junge gerade eine Auseinandersetzung mit einem der beiden Parteien hinter sich gebracht. Und vielleicht war er nur knapp entkommen, oder noch immer auf der Flucht, was seine nassen Kleider erklären würde.
Es fiel auf, dass der Junge bei der ganzen Konversation zwischen Robert und dem Besitzer des Ladens keinen einzigen Ton gesagt hatte. Und auch jetzt, wo er unter der Obhut von Robert stand, kam nicht ein einziges Wort des Dankes über seine Lippen.
»Nun gut, Mister« unterbrach Sir Lorradal das kurze Schweigen, das dem Jungen die Möglichkeit zur Danksagung geben sollte. »Wie gedenken sie mir den Schaden zu ersetzen?«
Robert schaute sich bedächtig um. Er wollte nicht gleich mit der Tür ins Haus fallen. Also suchte er nach anderen brauchbaren Dingen. An den hinteren Wänden des Ladens hingen Schweinebäuche und Rinderhälften. »Das wäre sicher das richtige, für eine längere Reise.« dachte er. »Nun, Sir. Zunächst benötige ich etwas Verpflegung für eine Person, die etwa einen Monat unterwegs sein wird« sagte er, doch dann hielt er kurz inne, dreht sich um und blickte den Jungen an. Der rührte sich noch immer nicht von Robert’s Seite - er schien sich geradezu hinter ihm verstecken zu wollen. Robert korrigierte sich. »Nein, warten sie. Geben sie mir Proviant für zwei Personen, die einen Monat unterwegs sein werden.« Was hatte er gerade gesagt? Hatte er wirklich den Jungen eingeladen mitzukommen, auf seine Reise? Warum hatte er das gemacht? Robert war eigentlich immer jemand