Der Physicus. Volker Schmidt, Prof. Dr.. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Volker Schmidt, Prof. Dr.
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347066137
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war, sollte es auf gar keinen Fall wieder hervorgeholt werden. Und so blieb Giovanni weiterhin eingesperrt, und langsam erkannte auch er die Situation, in der er sich befand.

      Betrübt, verärgert und resigniert verwendete er die viele Zeit zum Nachzudenken, doch »… was nutzt es, wenn man die Gedanken nicht aufschreiben kann - dann verschwinden sie so schnell, wie sie gekommen sind« dachte er und bastelte in seinen Gedanken weiter an einer besseren Welt.

      Mit dem Essen war es ähnlich. Auch das verschwand so schnell, wie es aufgetischt wurde. Von den Gefangenen wurde es die letzte Ration genannt, denn es war nur wenig mehr, als ein Kochlöffel voll Suppe, bestehend aus fast hundert Prozent Wasser und vielleicht auch mal etwas Gemüse. Dazu gab es eine schimmlige Scheibe Brot. Wenigstens war die Suppe warm, aber Kraft gab sie kaum. So verging die Zeit, und noch immer gab es keine Mitteilung bezüglich seines weiteren Schicksals. Mittlerweile war aus dem stolzen Giovanni ein geknickter alter Mann geworden, der kaum noch aufrecht stehen konnte. Zum Teil lag das natürlich an dem niedrigen Raum, in dem er sein Leben fristete. Doch auch sein Gesicht war matt und fahl geworden, leblos und ohne einen Tupfer Farbe. Der Bart war zerzaust und hing verfilzt bis auf die Brust. Seine Arme und Beine waren bereits so dünn, wie die eines Kindes, denn die Muskeln wurden durch das ständige Sitzen und Liegen kaum mehr beansprucht. Seine Kleider waren nur noch Fetzen, während ihm die Schuhe schon zu Beginn der Haft weggenommen worden waren. »Hier brauchst du keine mehr« sagte einer der Wärter und zog sie ihm mit Gewalt von den Füßen.

      Wer hier länger als sechs Monate durchgehalten hatte, gehörte schon zu den Altvorderen unter den Insassen. Und so gab es auch keine Gefangenen, die länger als ein Jahr in den Kammern überlebt hatten. Die meisten verstarben je nach anfänglichem Zustand bereits nach drei bis sieben Monaten. Giovanni war mittlerweile fast vier Monate hier, doch sein Glück war, dass er als Hofastronom des Dogen ein sehr gutes Auskommen hatte und sich daher ein recht üppiges Leben hatte gönnen können. Sein leiblicher Zustand war daher auch überdurchschnittlich gut gewesen, als er seine Kammer zum ersten Mal betreten musste. Man kann nicht sagen, dass er in den letzten Jahren Fett geworden wäre, doch für mittelalterliche Verhältnisse war er recht gut gerüstet. Leider konnte das sein bevorstehendes Ableben nur hinauszögern, denn offiziell entlassen wurde hier niemand, so dachte der Doge jedenfalls, und er ließ es auch jeden wissen.

      Abschreckung war im späten Mittelalter noch immer die Waffe, die die Könige und auch dieser Doge gegen Gewalt und Verbrechen einzusetzen pflegten. Und damit auch jeder richtig beurteilen konnte, wie überaus schlecht es jedem Straftäter ergehen würde, bat er ab und zu Gäste in seine Gemächer und erwähnte dann stolz und ganz nebenbei, dass aus seinen Bleikammern »… überhaupt noch kein Gefangener lebendig entlassen wurde.«

      Um der Abschreckung vor seinem Gefängnis noch mehr Gewicht zu verleihen, genehmigte er auch Gefangenenbesuche. Nicht aus reiner Herzensgüte, sondern lediglich, wie er sagte, zur Information für Verwandte und Bekannte. Auf diese Weise wurden nicht nur die Übeltäter selbst, sondern gleich auch die ganze Familie von seiner Art der Abschreckung in Kenntnis gesetzt. Dieses Prinzip schien sich auszuzahlen, denn zur Zeit des amtierenden Dogen hatte die Stadt Venedig die geringsten Verbrechen aller Zeiten zu vermelden, worüber die zahlreichen Händler und Bankiers mehr als dankbar waren, denn Verbrechen verhagelten den Händlern das Geschäft. Und sie waren sogar bereit dafür zu zahlen. Das äußerte sich dann in sogenannten Kopfpauschalen, die regelmäßig von den verschiedenen Handelszweigen zwecks Geschäftssicherung an den regierenden Dogen ausbezahlt werden mussten.

      Kopfpauschalen wurden von einer fixen Anzahl an Straftaten ausgehend berechnet. Je weniger Straftaten gemeldet wurden, desto höher war der an den Dogen zu zahlende Betrag. Stieg die Zahl der Straftaten wieder an, musste der Doge nachbessern und das kostete ihn sein eigenes Geld. So kam es, dass keiner der je verhaftet wurde noch ein weiteres Mal die Gelegenheit zur Straftat bekam. Denn die Gerichtsbarkeit lag in den Händen des gewählten Dogen und der befahl einfach, dass niemand entlassen werden sollte, völlig egal welches Vergehen ihm zu Last gelegt worden war, oder ob er es überhaupt begangen hatte. Gerecht war das sicher nicht, aber dafür eine sehr wirkungsvolle Art und Weise für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

      Als die Tage bereits wieder kürzer und die Nächte kälter wurden, hatte sich auch für Giovanni Besuch angemeldet. Das kam so überraschend für ihn, dass er fast vor Schreck und im Halbschlaf von seiner Pritsche gefallen wäre. So lag er dann auch in einer etwas merkwürdigen Position zwischen Liege und Boden, als seine Zellentür geöffnet wurde. Im Glauben daran, dass er nun doch endlich Rechenschaft ablegen sollte, wollte er sich keine Minute mehr zurückhalten und versuchte dem erwarteten und erhofften Besucher zuvorzukommen.

      »Ah, mein ehrenwerter Doge. Endlich gibst du mir die Gelegenheit zu widerrufen« sagte er mit ironischer Stimme zu der dunklen Gestalt, die halb in der Tür und halb auf dem Flur stand. »Viel Zeit hast du dir gelassen. Bald wäre nichts mehr von mir übrig gewesen, was noch hätte Abbitte leisten können.«

      Lange hatte er über das nachgedacht, was er dem Dogen sagen wollte, wenn er ihn denn endlich besuchen würde. Doch als es soweit war, fiel ihm nichts wirklich Gutes mehr ein. Nach den vielen Monaten des Wartens wurde Giovanni immer einsamer und er glaubte bald nicht mehr daran, dass er noch einmal hier herauskommen könnte. Er wurde merkwürdig eremitisch und langsam verlor er sogar den Glauben an eine gerechte Welt. Fast hätte er sich den finsteren Mächten anvertraut, doch bis zu diesem Tag hatte er noch immer gezögert. Es wäre ein allzu endgültiger Schritt gewesen und musste daher aufs äußerste durchdacht werden. Als Alchimist war ihm natürlich bewusst, welche Konsequenzen dies für ihn gehabt hätte, doch immer öfter dachte er daran, sich dem Teufel hinzugeben und ihm zu Diensten zu sein.

      »Ich bin nicht dein ehrenwerter Doge« erwiderte ihm der Mann in einer sonderbaren und Angst einflößenden Stimme.

      Der Doge war es tatsächlich nicht. Das zumindest konnte Giovanni erkennen. Die dunkle Gestalt war in einen Umhang gewickelt, als wenn er etwas zu verbergen hätte. Seiner Größe und seinem Akzent nach zu urteilen, war er nicht von hier. Nichts von ihm war richtig gut zu erkennen, nur die schwarzen Umrisse, die gegen den grellen Schein der Lichter vor Giovanni’s Zellentür abgebildet wurden. Giovanni bekam Angst und er glaubte den Leibhaftigen vor sich zu haben, weil er ihn vielleicht innerlich bereits herbeigesehnt hatte. »Wer … wer seid ihr dann und was wollt ihr von mir?« fragte er mit zittriger Stimme …

       Kapitel III - Rotröcke

      London, nahe des Themseufers

      1456 anno Domini, Frühling

      Es war zwar noch immer Frühling aber die Sonne stand bereits hoch im Zenit. Keine Wolke trübte den Blick in die Ferne, genauso wie es an den warmen Tagen zuvor auch schon gewesen war. Robert hatte vor einem kleinen Laden in der Nähe des Hafens, nahe der Themse, Halt gemacht. Auf einem großen Schild über der Eingangstür stand geschrieben …

      Darunter war ein königliches Wappen aufgemalt. Ganz offenbar war dies ein Geschäft, in dem auch der König und die Königin, oder zumindest die Angestellten des königlichen Palastes einige ihrer Bestellungen aufgaben.

      Das Haus, in dem der kleine Kramladen untergebracht war, bestand wie fast alle anderen Häuser hier im Hafenviertel auch, aus altem Fachwerk und die Häuserwände, in der die vorderen Eingangstüren eingelassen waren, wurden stets leicht schräg, zur Straße hinzeigend, in die Gasse hinein gemauert. Das hatte den nicht zu verachtenden Vorteil, dass man seine Notdurft schnell mal aus dem Fenster im oberen Geschoß, in dem die Nachtlager zu finden waren, direkt in die Straßengasse schütten konnte, ohne dabei Gefahr zu laufen, es vor seiner eigenen Haustüre wiederfinden zu müssen. Ein sorgsam angelegter Rinnstein in der Mitte der Gasse beförderte dann das Meiste des Unrats auf direktem Wege in den Fluss. Der morgendliche Regen erledigte fast immer den Rest.

      Als Robert eben durch diese Gasse gefahren war, überkam ihn das Gefühl, dass die Häuser bald über seinem Kopf zusammenstürzen würden, so schief starrten ihn die Wände an. Wenn er allerdings entlang dieser abschüssigen Gasse blickte, und das war ein schöner und stolzer Anblick, dann konnte er in einiger Entfernung die Großschoten der königlichen