Wir kamen nicht mit dem PKW, sondern mit dem Bus, der oben auf der Höhe oberhalb des Dorfes kurz anhielt. Dann fuhr er weiter hinunter ins Tal in einer anderen Richtung, die nicht durchs Dorf führte. Wir waren dann von der Bushaltestelle noch mehr als zehn Minuten unterwegs bis zum Haus der Großeltern. Wir mussten dann am nächsten Tag zur Volkspolizeistation, die einige Dörfer weiter stationiert war und uns offiziell anmelden. Es war nicht ganz einfach, dorthin zu kommen, denn niemand hatte ein Auto oder sonst eine Beförderungsmöglichkeit. Einmal gab mit meine Tante ihr Fahrrad, damit ich mich bei der Volkspolizei melden konnte. Es war schon eine ziemliche Quälerei, das Rad bis nach oben auf die Höhe zu schieben. Aber dann ging es endlich steil bergab ins Tal bis zum nächsten Dorf. Das Fahrrad wurde immer schneller, aber die Bremsen funktionierten nicht. Es gab keinen Rücktritt und die Handbremse zeigt keinerlei Wirkung. Die Fahrt wurde immer schneller und irgendwann würde ich abheben zu einem Rundflug über das Eichsfeld. In einer Kurve stürzte ich dann kopfüber in eine weiche Wiese. In der Handbremse war kein Bremsgummi mehr, und die Halterung hatte schon tiefe Rillen in den Reifen geschnitten. Nur noch einen kurzen Augenblick und die aufgeschnittenen Reifen wären wie bei einem Jongleur durch die Luft gewirbelt.
Später dann, als das Dorf in der Sperrzone lag, bekam Besuch aus dem Westen keine Besuchserlaubnis mehr. Wir stiegen in den Bus und gaben dem Fahrer Bescheid, wohin wir wollten. Er verstand sofort, dass wir nicht ganz legal ins Dorf kamen. Oben auf der Hochebene hielt er dann in einer Kurve kurz vor dem Wald an und wir stiegen aus. Direkt hinter der Kurve lag der Kontrollposten der Volkspolizei, der mit einem Schlagbaum gesichert war. Alle Insassen des Busses wurden kontrolliert und zeigten ihre Besuchserlaubnis. Wir aber liefen ungesehen durch den Wald hinunter ins Dorf. Im Dorf gab es damals noch keine Polizeistation. Nur manchmal kam die Volkspolizei zu Kontrollen. Sie besuchten dann den Bürgermeister in seinem Haus hoch oberhalb des Dorfes. Die Bürgermeisterfrau, die wusste, dass wir zu Besuch waren, hängte dann Bettwäsche auf. Das war für uns ein Signal, im Wald zu verschwinden. Erst wenn die Bettwäsche wieder abgenommen wurde, konnten wir zurück ins Haus.
Als Waldi noch lebte, konnten wir ganz offiziell bis zur Bushaltestelle oberhalb des Dorfes fahren und von dort zu Fuß laufen. In der reinen und klaren Luft, die durch keinerlei Autoabgase verunreinigt war, roch Waldi offenbar schon lange vor unserer Ankunft, wer da zu Besuch kam. Aufgeregt und freudig bellend kam er uns schon weit auf der Straße entgegen. Später dann war auch das dünn besiedelte Eichsfeld vom typischen DDR – Geruch erfüllt. Selbst der Wald und die Höhe von Kalteneber stank nach dem DDRSprit. Waldi hätte uns sicher nicht mehr riechen können.
Als er dann älter wurde, kam er nur noch bis zum Hoftor, dann nur noch bis zur Haustür. Zuletzt sprang er nur noch vom Sofa herunter, aber auch dazu war er zuletzt zu schwach. Er hob nur ein wenig die Augenlider, und die Schwanzspitze wackelte fast unsichtbar.
Eines Tages kam ich zu Besuch und Großvater weinte bitterlich. „Heute war ich beim Tierarzt und habe Waldi eine Spritze geben lassen. Ich habe seinen letzten Atemzug auf meiner Hand gespürt. Hätte ich ihn doch einfach auf dem Sofa liegen lassen. Er wäre ganz einfach eingeschlafen!“
Danach hatte Großvater nie mehr einen Hund.
Schließlich war er selbst alt geworden und hütete keine Ziegen mehr.
Waldi der Eisenbahner
Mein erster eigener Hund war ein reinrassiger Mischling.
Ein wenig sah er aus wie ein kleiner Border Collie. Sein langes glattes Fell war schwarz - weiß. Die Brust rein weiß, die Ohren weiß und schwarz und der Kopf glänzte in einem schönen Schwarz. Der lange gefiederte Schwanz ragte stolz in die Höhe und die sanften braunen Augen blickten treu und liebevoll, sodass bei seinem Blick jedes Herz schmolz.
Eigentlich war es nicht mein Hund, er war nur für ein paar Jahre „ausgeliehen“. Aber ich habe ihn so geliebt, dass ich später in meinem Leben - mit einer Ausnahme - immer langhaarige schwarz - weiße Hunde hatte. Waldi war der Hund meines Onkels, der aus dem Eichsfeld in das Ruhrgebiet „ausgewandert“ war. Dort gehörte ihm ein Dachdeckerbetrieb.
Onkels Sohn, mein Cousin Edmund war immer noch in Kriegsgefangenschaft verschwunden. Er gehörte zu den „Zehntausend“, die in russischen Lagern schmorten. Unmittelbar vor dem Abitur wurde er aus der Schule geholt und nach einer kurzen Ausbildung auf die Krim in den Krieg geschickt. Später erzählte er einmal - wenn er überhaupt jemals von seinen Kriegserlebnissen sprach - wie er auf der Krim mit aufgepflanztem Bajonett durch ein Gebüsch schlich. Plötzlich tauche ihm gegenüber ein blutjunger russischer Soldat auf, ebenfalls mit aufgepflanztem Bajonett. Beide schrien entsetzt auf, warfen die Waffe ins Gebüsch und rannten in entgegengesetzter Richtung davon. Der Krieg war da schon an sein Ende gekommen. Andernfalls wäre mein Cousin wohl wegen Feigheit vor dem Feind erschossen worden.
Irgendwie gelang es ihm, sich bis an die Elbe durchzuschlagen. Er hat nie davon erzählt. Aber eine russische Jüdin, die wegen ihrer deutschen Abstammung nach Deutschland ausreisen durfte, schrieb mir einmal die Geschichte eines jungen deutschen Soldaten, dem sie begegnet war. Sie war damals sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Sie war allein zu Hause in der kleinen Bauernkate und kochte Kartoffeln. Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen und ein deutsches Sturmgewehr erschien in der Tür. Dann sprang ein blutjunger deutscher Soldat mit vor Angst weit aufgerissenen Augen in den Raum. Die beiden starrten sich eine Weile bewegungslos an. Dann aber sah meine Russin, dass der junge Deutsche mit gierigem Blick auf die Kartoffeln schaute. Spontan nahm sie eine heiße Kartoffel und gab sie ihm in die Hand. Er stopfte sich die kochend heiße Kartoffel gierig in den Mund und verschwand auf Nimmerwiedersehen. Wer weiß, vielleicht war das mein Cousin Edmund?
Edmund kam bis ans Ostufer der Elbe. Aber die Grenze zwischen der amerikanischen und der russischen Zone war strengstens bewacht. Nachts leuchteten Suchscheinwerfer die Elbe ab und immer wieder tönten Maschinengewehrsalven. Dann, in einer Nacht nahm Edmund seinen ganzen Mut zusammen und schwamm mit Büschen getarnt durch den Fluss. Aber kurz bevor er die amerikanische Zone erreichte, flammten Suchscheinwerfer auf und Gewehrsalven wurden auf ihn abgefeuert. Zwar antworteten die Amerikaner auf der westlichen Seite mit einem gewaltigen Gegenfeuer, aber Edmund wurde gefangen genommen und verschwand für viele Jahre in sibirischen Lagern. Erst 1955 gelang es Adenauer bei einem Besuch in Moskau, die letzten Kriegsgefangenen auszulösen. Am 7. Oktober 1955 kamen die ersten westdeutschen 600 Heimkehrer der „Zehntausend“ im Grenzdurchgangslager Friedland an. Unter ihnen auch mein Cousin Edmund. Bundespräsident Theodor Heuss besuchte sie dort wenige Tage später und hieß sie willkommen. Er vertrat dabei den an Grippe erkrankten Kanzler Adenauer.
Edmund hätte so gerne studiert, aber er kam als gebrochener Mann zurück. Zu seinem Glück hatte seine Freundin die ganzen Jahre auf ihn gewartet. Hin und wieder war sie mit einem kleinen Handwagen nach Thüringen zu meinen Großeltern gepilgert und hatte Lebensmittel quer durch das zerbombte Deutschland nach Westfalen zu meinem Onkel gebracht. Später lebten beide vorübergehend in einem kleinen Zimmer, das mein Onkel neben dem Lagerschuppen einrichtete.
In diesem Schuppen hatte auch Waldi seine Hütte. Er durfte nicht in die Wohnung, denn - wie jeder weiß - Hunde gehören nicht in die Wohnung. Nur nach Feierabend holte mein Onkel den Hund in die Wohnstube und versuchte, ihm Kunststücke beizubringen. Sitz, Platz, gib Pfötchen. Das ging ja alles noch. Mit traurigem Blick versuchte Waldi alle Befehle meines Onkels auszuführen. Aber als er dann zu allem Überfluss auch noch auf den Hinterbeinen stehen und tanzen sollte,