Von Hunden, Katzen und anderen Menschen. Gerhardt Staufenbiel. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gerhardt Staufenbiel
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783347016613
Скачать книгу
Großeltern waren arme Bauern, aber sie gehörten zu den „sieben Gerechtigkeiten“. Das war ein altes, in den Kirchenbüchern verbuchtes Recht, das bis ins 13. Jahrhundert zurückreichte. Es war zwar ein verbuchtes Recht, aber nirgendwo gab es geschriebene Regeln. Die wurden als überlieferte Tradition von Generation zu Generation weiter gegeben. Damals - wohl im dreizehnten Jahrhundert - war ein adeliger Herr Namens Dieter mit sieben Familien in die Gegend gezogen und hatte die Wälder gerodet. Darum hieß der Ort Dieter-rode. Aus jener Zeit stammen uralte Ruinen, die der Legende nach zu einer Kaiserpfalz gehörten. Der Kaiser war niemals dort, aber er hatte das Recht, wenn er über das Land zog, in einer solchen Pfalz für die Zeit seines Besuches zu wohnen. Die adeligen Herren mussten eine solche Pfalz für ihn bereit halten.

      Seit jener Zeit hatten die Nachkommen dieser sieben Familien besondere Rechte. Ihnen gehörten gemeinsam genutzter Wald und neben den eigenen Äckern ausgewählte Felder, die sie wie ihr Eigentum bearbeiten konnten. Einige der Familien bildeten kleine Gruppen, die sich gegenseitig halfen. Der größte Bauer stellte den kleineren Pferde und Wagen für die Ernte zur Verfügung. Dafür halfen die anderen ihm bei seiner Ernte. Aber alle waren freie Bauern. Nirgendwo war die Verpflichtung zur gegenseitigen Hilfe verbrieft. Es war ein ungeschriebenes Gesetz, das niemals gebrochen wurde. Erst mit der zwangsweisen Einführung der sozialistischen LPG - der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften - wurde dieses uralte System der gegenseitigen Hilfe freier Bauern abgeschafft. Aus den freien Bauern wurden Landarbeiter, die nie mehr ihren eigenen Boden bearbeiten durften. Sie arbeiteten im Lohnverhältnis für die Genossenschaften. So macht man aus freien Bauern lohnabhängige Arbeiter.

      Die Bauern im Dorf waren arm, denn der Boden war karg und warf gerade so viel ab, dass man nicht an Hunger starb. Nur wenige Bauern hatten ein Pferd oder eine Kuh im Stall. Die anderen begnügten sich mit Ziegen. Großvater hatte ein Dutzend Ziegen im Stall, die jeden Tag in den Wald geführt werden mussten, denn Futter war teuer. Und da war Waldi ein unentbehrlicher Helfer. Wenn Großvater seine alte Ziegenjoppe anzog, sprang Waldi vom Sofa und war bereit zum Ziegenhüten. Die Ziegenjoppe war schon uralt und vielfach geflickt. Außerdem stank sie so erbärmlich nach Ziege, dass sie in den Stall verbannt war. Großvater durfte das Haus niemals mit der Jacke betreten.

      Ich weiß nicht, ob die Ziegen meinem Großvater in den Wald folgten oder ob sie seiner alten Joppe hinterherliefen. Auf jeden Fall musste jeder, der Großvater beim Ziegenhüten vertrat, die Joppe tragen. Sie war der Ausweis für die Ziegen, dass man dieser Person vertrauen konnte. Eigentlich war Waldi nicht nötig, um beim Ziegenhüten zu helfen, denn die Ziegen folgten getreulich der alten, stinkenden Joppe. Aber er war immer mit dabei.

      Einmal durfte ich die Ziegen hüten. Also wurde mir die Joppe übergezogen. Aber ich war noch so klein, dass die Jacke am Boden schleifte und mir die Ärmel mit einer Schnur hochgebunden wurden. Dann ging es los in den Gerechtigkeitswald. Ich voran, die Ziegen hinterher. Und Waldi zeigte mir den Weg. Aber eigentlich waren es die Ziegen, die ihren Weg kannten. Manchmal hetzte ich hinterher, denn die Ziegen waren oft sehr schnell und rannten gierig nach Futter voran.

      Waldi tat immer sehr wichtig, so als würde er die Herde zusammenhalten. Aber nur manchmal, wenn eine der Ziegen sich seitwärts in die Büsche schlug, trieb er sie bellend wieder zurück. Meine Aufgabe bestand darin, den Ziegen ein paar Zweige mit Großvaters Gehstock herunterzuziehen. Ich kannte die Lieblingsbüsche der Ziegen nicht, aber sie führten mich von alleine dorthin, wo sie am liebsten fraßen. Damit die Ziegen den Baum nicht völlig kahl fraßen, wurden sie immer in Bewegung gehalten und weitergetrieben. Denn am nächsten Tag sollte ja auch noch Futter da sein. Deshalb wechselte Großvater seine tägliche Route damit sich die Bäume und Büsche vom Ziegenfraß erholten.

      Im Sommer, wenn die Walderdbeeren reif waren, hatte Großvater immer ein kleines Schraubglas dabei. Gespannt warteten wir schon auf die Ernte. Die Beeren wurden gezuckert und in Milch eingelegt. Einfach köstlich. Einmal war ich mit unterwegs im Wald und fand ein paar Erdbeeren, die aber noch nicht ganz vollreif waren. „Nein, die darf man noch nicht ernten! Lass sie noch wachsen, denn auch morgen willst du ja auch noch Erdbeeren haben. Wenn du alle pflückst, gibt es morgen keine mehr!“

      An einer anderen Ecke des Waldes standen wilde Kirschbäume. Zur Kirschenzeit gab es dort die leckersten Kirschen. Im Gesträuch am Feldrand unter den Kirschbäumen wohnte die Zwergenkönigin mit ihrem Volk. So erzählte Großvater und ich war fest davon überzeugt, dass er recht hatte. Denn nur unter ihrem Schutz reiften die Kirschen so köstlich.

      Früher einmal führte eine kleine Eisenbahnlinie durch den Gerechtigkeitswald Hier verkehrten nur wenige Personenzüge. Sie führen von der Kreisstadt Heiligenstadt bis ins hessische Dorf Frieda. Dort änderte sich die Spurweite und man stieg in einen hessischen Zug um. Von Heiligenstadt aus führte die Bahn steil die Berge hinauf. In der Anfangszeit der Bahn stiegen die Passagiere an der Steigung aus und gingen zu Fuß, denn die voll besetzte Bahn schafft es nicht den Berg hinauf. Oben angelangt stiegen die Passagiere wieder zu und der Zug fuhr weiter bis nach Kalteneber oben auf der Höhe. Die Leute sagen, dass der Ort – eigentlich nur ein Bahnhof – so hieß, weil es dort so kalt war, dass der Eber auf der Sau einfror. Danach führte die Linie wieder hinunter durch den Wald zum nächsten Bahnhof.

      So unscheinbar die Bahnlinie wirkte, so wichtig war sie offenbar im Krieg. Denn die Brücken waren so ausgebaut, dass dort schweres Kriegsgerät transportiert werden konnte. So waren denn auch viele Schwerlasttransporte auf der Strecke bis nach Frieda unterwegs. Dort verschwanden die Züge in einem Tunnel und kamen erst am nächsten Tag wieder zum Vorschein. Aber vorher erschienen Schwerlastzüge aus dem Tunnel und verschwanden auf der hessischen Seite. Auch umgekehrt gab es solche Transporte von West nach Ost. Wilde Geschichten rankten sich um diesen Tunnel. Lange Zeit munkelte man, dass auch das berühmte Bernsteinzimmer in diesem Tunnel umgeladen wurde und dann verschwand. Nach dem Krieg wurden dort geheimnisvolle Experimente gemacht, zu denen Niemand aus der Gegend Zugang hatte. Heute ist der Tunnel verschüttet. Niemand kann mehr sein Geheimnis erforschen.

      Einmal mitten im Krieg waren wir zu Besuch bei meinen Großeltern. Meine Mutter wollte unbedingt mit dem Zug wieder nach Hause. Aber meine Tante schrie und weinte und holte uns endlich aus dem Zug, der fast schon wieder anfuhr. Auf dieser Fahrt nach Frieda wurde der Zug auf offener Strecke von Tieffliegern beschossen. Der Lokführer und viele Passagiere starben. Hatte meine Tante das dritte Gesicht?

      Nach der Trennung Deutschlands in zwei Teile wurde das Eichsfeld russisches Gebiet. Schon bald nach Kriegsende wurde die Bahnlinie demontiert. Die Gleise verschwanden irgendwo in Russland. Seit der Zeit führt das Schotterbett bis heute wie ein breiter Wanderweg durch den Wald. Großvater hütete seine Ziegen immer entlang der alten Bahnstrecke. Dort rannte Waldi weit voraus. Eines Tages tauchte vor ihm ein Hase auf. Erschrocken sah er den Hund und erstarrte zum Männchen. Die Ohren waren hoch aufgestellt und der Hase stand bewegungslos vor Schreck. Aber auch Waldi blieb mitten auf dem Weg bewegungslos stehen, die Nackenhaare gesträubt. Mit einem Hasen als Gegenüber hatte er nicht gerechnet. Verdutzt stieg er auf seine Hinterbeine und so starrten sich Hase und Hund bewegungslos an bis Großvater in lautes Lachen ausbrach. Blitzartig drehten sich die beiden Kontrahenten um und rannten wie vom Teufel gehetzt in entgegengesetzte Richtung auf der alten Bahntrasse davon. Aber keiner von beiden kam auf die Idee, einfach im Wald zu verschwinden.

      Die Großeltern hatten selbstverständlich nicht nur einen Hund, sondern auch eine Katze. Die beiden mochten sich sehr. Wenn sie nicht gerade Ziegen hüteten oder Mäuse fingen, lagen sie einträchtig auf dem Sofa, die Pfoten um den anderen gelegt und schliefen. Manchmal konnte man kaum erkennen, wo in dem Knäuel der Hund und wo die Katze war. Beim Füttern wurde ganz gerecht das Futter auf zwei Näpfe verteilt. Die Katze sprang sofort vom Sofa herunter und fraß gierig ihren Napf leer. Waldi stand mit hängenden Ohren daneben und betrachte verwundert die Gier, mit der die Katze fraß. Aber wenn ihr Napf leer war, wendete sie sich sofort dem Hundenapf zu. Das gefiel Waldi so überhaupt nicht und er protestierte. Dann bekam er die Katzenkrallen um die Ohren und die Zuständigkeiten waren geregelt.

      In den Anfangsjahren nach dem Kriegsende durften wir noch die Großeltern und nach deren Tod meine Tante besuchen. Später war das dann nicht mehr möglich, denn das Dorf wurde zum grenznahen Sperrgebiet. Nichteinmal die Dorfbewohner konnten ohne polizeiliche Erlaubnis das Nachbardorf betreten. Wenn ich zu Besuch