heute wirst du gehenbleiben. Gertraud Löffler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gertraud Löffler
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783749794089
Скачать книгу
sie ihn, ob ihm auch wirklich die Tragweite bewusst wurde, die ihren Protest begleitete.

      „Alle Systeme unserer Zeit funktionieren immer auf Kosten der Schwächsten! Die, die nichts haben, besitzen immer weniger und die, die viel haben, fliegen mit ihren Freimeilen samt Wohlstand über unseren Köpfe hinweg auf und davon und schauen aus ihren gepolsterten Boing-Sitzen auf dem Weg zu den Malediven mitleidig auf den Rest der Menschheit herab. In so einem System kann man nicht ernsthaft mitmachen wollen. Sonst ist man selbst nicht besser als all die da oben!“

      Lizzys Zeigefinger fuhr kreisend durch die Luft.

      „Paradebeispiel Vogelkot.“

      Martins Sichtfeld wanderte zu dem grau-bräunlichen Fleck und ihm wurde sofort klar, was hier wild schrubbend entfernt wurde. Zumindest lief der Versuch, dies zu tun, auf Hochtouren. Angewidert sah er auf seine Handfläche, die vorhin Lizzys berührt hatte. Lizzy dagegen war nicht zu bremsen, weder in ihren Ausführungen noch im Traktieren des unschuldigen grau- weißen Stoffs.

      „Jeder, dem schon mal eine Taube auf die Klamotten geschissen hat, kapiert das sofort.“

      Lizzy tippte mit dem gerade noch mahnend erhobenen Finger ein paar Mal an die Stirn. Ihre Wangen röteten sich allmählich vor Aufregung.

      „Die Scheiße, die da oben produziert wird“, fuhr sie in energischem Tonfall fort, „landet immer auf den Kleinen und bleibt auf den Schultern der Unschuldigen hängen.“

      Es entstand eine kurze Pause, welche Lizzys kritischer Ansprache noch mehr Theatralik verlieh. Ihre Rede an die Nation ähnelte einem künstlerischen Auftritt. Martin war das Publikum und fast Adressat der Beschimpfungen. Jedenfalls fühlte er sich ein bisschen so. Das Ganze mit dem Fliegen war doch nicht seine Schuld. Er stieg schließlich schon seit Jahren nicht mehr in so ein Ding. Zwar nicht aus Umweltgründen oder, weil er Geld sparen wollte. Er hatte schlicht und ergreifend Panik, wenn er nur daran dachte. Früher ja. Heute nein. Hatte alles wohl seine Zeit. Abgesehen davon schwebte auch sein Gehalt nicht in anderen Sphären. Nachdem Martin seit Jahren die Summe der Verantwortungen klein hielt, tat logischerweise sein Gehaltszettel das Gleiche. Aber schimpfte Lizzy überhaupt über ihn? Oder meinte sie alle? Das Unglücksshirt lag ruhig in ihrer Hand und das Mädchen stand aufrecht mit geradem Blick, als wollte es der Welt in seiner gesamten Ungerechtigkeit die Stirn bieten. Martin konnte sich gut vorstellen, dass sie sich an dieser Stelle über einen kurzen Applaus gefreut hätte.

      Inzwischen fühlte er sich von dieser jungen Frau gnadenlos überfordert und er sehnte sich derart nach seiner Wohnung, dass er am liebsten gleich losgelaufen wäre. Zurück in seine vier Wände, zu der unkomplizierten Stille, die dort herrschte. Leider befand sich seine heimelige unpolitische Küche unendlich weit weg.

      „So ein Mist! Was ziehe ich nur morgen an?“

      Lizzys Stimme war wieder etwas leiser. Der schlimmste Teil ihrer Schimpftirade schien überstanden und allein schon der sinkende Geräuschpegel wirkte sich bei Martin in einem entspannteren Gefühl aus. Sein Verstand arbeitete sich durch die wenigen Fakten. Morgen dieses T-Shirt anziehen? Hatte sie nicht wie alle Teenager mindestens einen Schrank voller Kleidung zu Hause? Sie brauchte doch nur in der Früh ein neues Shirt herauszunehmen. Wo lag das Problem? Aber dass sie derart in Rage geraten war? Vielleicht sollte er dieses Mädchen zumindest moralisch unterstützen, auch wenn sich ihm eher der Verdacht aufdrängte, es könnte sich um ein rein pubertär bedingtes Problem handeln. Mit solchen Dingen kannte er sich nur bedingt aus als kinderloser Single.

      „Also nicht alle Erwachsenen sind schlecht“, sagte er. „ich fliege übrigens nicht.“

      Lizzy sah ihn an. Ihre Augen versuchten das vorwurfsvolle Sätzchen „Und, ist das alles?“ formulieren zu wollen. Oh, oh! Das Thema Fliegen sollte er wohl eher lassen. Und auch sonst schien es besser, sich nicht zu verteidigen. Das würde zu nichts führen, höchstens zu einer neuen Steilvorlage für Standpauken an die Menschheit.

      „Ich mache Ihnen, ähm dir, einen Vorschlag“, begann Martin und versuchte, einen ruhigen Ton anzuschlagen, um Lizzy zu besänftigen, „steck das Ding in die Maschine und nimm ein Frisches!“

      Wie ein zufriedener Pfarrer breitete er die Arme an seiner Seite aus, um zu zeigen, dass die Lösung auf der Hand lag und der Weltfrieden gesichert.

      „Problem beseitigt“, rief er. Es gab absolut keinen Grund, sich dermaßen zu echauffieren wegen eines unter tausend Kleidungsstücken eines Teenagers.

      Lizzy setzte sich erschöpft auf den Beckenrand und sah Martin einen Moment lang abschätzend an. Eins zu null für mich. Na also, geht doch, dachte er. Kurz presste sie die Lippen aufeinander, sodass sie schmal und weiß wurden. Ihre Augen bekamen mit einem Mal einen glänzenden dunkelgrünen Schimmer. Um die beiden baute sich ein Gebilde aus hörbarer Stille auf. Martin spürte, dass er sich zu früh gefreut hatte. In ihrem Kopf braute sich, so wie es aussah, ein neues Unwetter zusammen, es musste die Ruhe vor dem Sturm sein. Ihm schien, als würde sie überlegen, ob und wie sie auf seine laienhafte wenig hilfreiche Allgemeinweisheit reagieren sollte. Martin machte sich gefasst auf Gezeter, Geschrei und wilde Beschimpfungen. Wortlos starrte sie auf den Brunnen und zupfte an dem Stoff herum.

      Das plötzliche Schweigen kam ihm beinahe unheimlich vor. Und auch die Natur um ihn herum verhielt sich leise, als hielte sie den Atem an. Nur ein Lebewesen werkelte munter weiter. In dem nahen Wäldchen pickte ein Vogel eifrig gegen die Rinde einer knorrigen Eiche, deren dicker alter Haut der Störenfried sicherlich nicht im Geringsten etwas ausmachte. Vermutlich spürte sie es kaum und zog unbeirrt von all dem Treiben um sie herum Wasser und Nahrung aus dem saftigen Humus der würzig duftenden Parkerde. Kein einziges Blatt ihrer riesigen Krone interessierte sich für die Sorgen dieser Welt oder gar für Teenagerthemen. Es raschelte ein wenig. Eine Windböe spielte beiläufig mit dem dichten Laub. Nach einer Weile brach Lizzy die Stille und begann fast resigniert zu sprechen.

      „Ich kann nicht nach Hause. Vor einer knappen Woche bin ich weg von daheim und meine Mutter denkt, ich bin in Wolkerstadt bei meiner Tante Astrid. Und wenn es dich interessiert, ich habe nur zwei T-Shirts dabei. Mehr hat nicht in den Sack gepasst.“

      Jetzt ging Martin ein Licht auf. Eine Ausreißerin also! Das erklärte einiges und wenn er darüber nachdachte, passte es zu ihr wie die Faust aufs Auge. Rückblickend hätte er das sofort erkennen müssen. Es war zu offensichtlich. Leider machte ihn diese Erkenntnis von einer Sekunde auf die andere zum Mitwisser. Eigentlich hätte er jetzt die Pflicht, zur Polizei zu gehen und den Vorfall zu melden…

      Sollte er? Der Klamottenengpass schien ihr wirklich nahe zu gehen. Betrübt stand sie mit dem ruinierten Stück Stoff vor ihm und ihre hängenden Schultern hätten jeden um sie herum aufgefordert, tröstend den Arm um sie zu legen. Martin tat es nicht, trotz der Schutzbedürftigkeit, die sie plötzlich umgab. Für ihn zählten im Moment nur die Tatsachen. Das war das Terrain, auf dem er sich sicher bewegte. Gedanklich ging er nochmal alles durch. Ausgerissen war sie, niemand hatte es bisher bemerkt und keiner wusste, wo sie ist. Außer ihm! Vorsichtig fühlte er vor:

      „Vermisst dich niemand?“

      Er musste sich dringend ein besseres Bild von der Situation verschaffen.

      „Nein, wie gesagt, offiziell bin ich bei meiner Tante zum Lernen.“ Lizzy machte keine Anstalten weitere Informationen nachzuschieben.

      „Und deine Lehrer? Du fehlst also auch in der Schule?“

      Lizzy zögerte: „Jein, es steht uns die nächsten eineinhalb Wochen lang frei, ob wir zum Unterricht kommen oder zum Lernen zu Hause bleiben, und dann ist Prüfungsphase. Abiturklasse, verstehst du? Da endet der offizielle Pflichtteil in der Schule und die Prüfungen beginnen erst später. Mich erwartet also die nächste Zeit niemand…“

      Martin strich sich durch die Haare und runzelte die Stirn. Sein Herrenhemd klebte an seiner Brust. Für diese Jahreszeit war es verdammt warm. Oder brachte ihn die verzwickte Lage, in die ihn das Mädchen brachte, zum Schwitzen?

      Sein Tag heute war eine einzige Ansammlung seltsamer Begebenheiten. Er hätte einfach in der Früh durch diesen saublöden Tunnel zur Arbeit fahren sollen. Dann säße er jetzt am Schreibtisch und