heute wirst du gehenbleiben. Gertraud Löffler. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Gertraud Löffler
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783749794089
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ein weiteres Mal gelungen, unter allen Herausforderungen erfolgreich hindurch zu tauchen. Sein Handy schrie acht Uhr und sein schlechtes Gewissen spitzte die Ohren. Im Laufschritt eilte Martin das Treppenhaus hinauf in den zweiten Stock des Bürogebäudes. Die untergeklemmte Bürotasche stabilisierte seinen rechten Arm eng am Körper, während die freie Hand ungelenk an seiner Seite ruderte bei dem Versuch, das Tempo zu steigern. Der Sprint ließ ihn heftig atmen und zwang ihn, einen Moment am Treppenabsatz der ersten Etage stehen zu bleiben. Tröstend war die Aussicht darauf, dass spätestens in neun Stunden sein Pensum geschafft sein würde. Dann konnte er zufrieden nach Hause fahren und den Rest des Tages in Ruhe ausklingen lassen. Endlich oben. Im zweiten Stock befand sich der Wirkungsort seines täglich zu entwirrenden Geflechts aus Zahlen, Fakten und Daten der Personen, die damit unweigerlich verknüpft waren. Sein Arbeitsplatz. An die letzte Stufe schloss sich ein lang gezogener Flur an mit verschiedenen Büroräumen. Ganz hinten am Ende befand sich Martins Reich, das durch ein farbloses Namensschild und einer dreistelligen Nummer besiegelt war. Wie jeden Morgen kam er zwei Zimmer vorher an der Wirkungsstätte seiner Kollegin Katharina vorbei. Als er sie hinter ihrem Schreibtisch sah, winkte er wie gewohnt für einen flüchtigen Gruß. Die Türe stand wie immer sperrangelweit offen, ein Faktum, das sich eingebürgert hatte, um einen reibungslosen Austausch von Akten und Kaffeetassen und vor allem von Neuigkeiten zu gewährleisten. Die Sache mit dem Flurfunk nahm Katharina, wie alle in der Bank wussten, sehr ernst und sie galt deshalb auf dieser Ebene als Anlaufstation. Geselligkeit entsprach ihrem Naturell. Der einzige, der kaum mit ihr sprach, war Martin und so lief er auch heute geschäftig weiter. Er dachte an die Musicalkarten in seinem Auto. Gott sei Dank hatte er sie auf dem Beifahrersitz vergessen!

      Folglich konnte er sie gar nicht fragen, selbst wenn er gewollt hätte. Eiligen Schrittes nahm er für einen Bruchteil einer Sekunde noch wahr, wie Katharina ihm zulächelte und sich eine dunkle Haarsträhne zurückstrich, die sich beim flüchtigen Durchsehen einiger Notizzettel aus ihrer Steckfrisur gelöst haben musste. Ihre Augen strahlten durch die braunen Teller ihrer Brille. Weiblich wohlgeformte Rundungen versteckten sich in einem schicken beigen Cordrock und unter einer hübschen, bunt bedruckten Bluse. Ohne Frage. Sie sah toll aus. Aber die Arbeit rief. Die Finanzierungspläne warteten. Oben auf Martins Aktenstapel lag der Businessplan von Herrn Polarsky, einem Mann Anfang dreißig. Ihm als Banker stellten sich jedes Mal aufs Neue alle Haare auf bei dem Gedanken an ein Leben in Selbstständigkeit. Welcher Teufel ritt diese jungen Männer, die es wagten, sich auf so unsicheres Terrain zu begeben. Kein vernünftiger Mensch sprang bereitwillig mit Schwung in das Haifischbecken der freien Wirtschaft. Man wurde entweder im Konkurrenzkampf zerfleischt oder man kam als Sieger mit Beute wieder heraus. Ob Ersteres oder Letzteres passierte, stand in den Sternen und verlangte eine dicke Haut und Durchsetzungskraft. Martin zog den Hut vor so viel Mut, aber das Abarbeiten solcher Unterlagen war stets ein Graus. Immer schwankte er zwischen Bewunderung und Mitleid. Mit seiner Unterschrift für die Bewilligung des Kredits würde künftig das Leben der Existenzgründer an einem seidenen Faden hängen. Über die Jahre hatte sie Gott sei Dank an Leserlichkeit eingebüßt. So trug die Grabinschrift zumindest nicht den deutlich sichtbaren Namen Martin Steiner.

      Martin hob den Kopf. Hatte Katharina heute wieder dieses Veilchenparfum aufgetragen? Er meinte, im Flur einen dezenten Frühlingsduft wahrgenommen zu haben…

      Kurz nach acht betrat er sein Büro und widmete sich der Pflicht, indem er den harten Deckel einer Mappe aufschlug und zu lesen begann. Sie hatte sich vermutlich vorhin einen Kaffee geholt, denn in der Begleitung des Veilchendufts schwebte unverkennbar eine Nuance Röstaroma. Währenddessen lagen auf dem Beifahrersitz noch immer zwei „Phantom der Oper“-Karten. Egal. Martin schnäuzte geräuschvoll und strich sich kräftig über die Wange.

      Existenzgründung. Angelbedarf. Geschäftsräume Stadtrand Süd. Für die nächsten Stunden verstellten die Ordner auf seinem Schreibtisch die Sicht auf alles außerhalb von Finanzierungsplänen. Katharinas Rundungen schienen fern wie ein kreisender Planet einer anderen Galaxie und bewegten sich doch nur durch einen Raum gleich nebenan. Ein paar kniffelige Berechnungen schafften es, die sexuellen Gefühle eines Mitvierzigers in den besten Jahren in ein solides Zahlengebäude einzumauern.

      Lizzy

      ENGELSBERG

      Als sie durch die Scheibe den Namen gelesen hatte, war sie spontan ausgestiegen.

      Trotz des sonnigen Frühlingswetters wehte ihr am Gleis ein kühler Wind um die Ohren und zupfte frech an ihrer Jacke. Zügig verließ sie das Bahnhofsgebäude und trat nach draußen. Es wimmelte von Menschen, die irgendwo hineilten, ankamen oder gingen. Die mittlere Großstadt mit ihrem hungrigen Sog verleibte sich einen nichtsahnenden Neuankömmling ein und Lizzy verschwand in der Menschenmasse, die sich wie ein vielfüßiges Lebewesen durch die Fußgängerzone schob. Die Riemen ihres Rucksacks drückten beim Laufen ein wenig und das Gewicht zog an ihren Schultern. Aber die Beschwerden hatten keinerlei Beachtung verdient. Staunend schwamm sie mit der Menge durch die Straßen und fühlte sich seltsam gebunden und doch frei.

      Echte Freiheit fühlte sich unter den Füßen leicht an; trotz der Kilos am Buckel, gegen die sich jeder einzelne Wirbel mühsam anstemmte. Endlich weg von ihren bornierten Eltern, von der Scheißschule und von diesem Scheißleben, den Scheißzwängen…

      Freiheit! Yeah! In ihr blubberte das pure Leben wie in einer frisch geöffneten Mineralwasserflasche und am liebsten hätte sie einen lauten Glücksschrei ausgestoßen. Yeah!

      Frei sein - bedeutete das nicht, dass es hinter dem eigenen Horizont noch unendlich weiter ging? Dass man heute tun konnte, was man morgen lassen wollte? Das Leben auf Händen zu tragen und vom Leben auf Händen getragen zu werden? In Lizzys Kopf purzelten die Gedanken wild durcheinander. Allerdings, dachte sie, hieß frei sein auch freier Fall, wenn die Stricke reißen.

      „Werden sie aber nicht“, murmelte Lizzy halblaut.

      Denn sie hatte vorgesorgt. Wird schon nichts Wichtiges fehlen, schwer wie der Rucksack war! Und falls es doch so wäre, würde sie es noch früh genug merken, also konnte es im Moment egal sein. Das heimliche Packen war das Schwierigste gewesen. Zornig vom Streit mit ihrer Mutter war sie mit knallender Türe in ihrem Kinderzimmer verschwunden und hatte sich eingesperrt, bis beide Eltern für eine Abendveranstaltung das Haus verlassen hatten. Der Entschluss war unumkehrbar. Sie war am Teppichboden gekniet, neben ihr der Rucksack und die Liste, die sie schon Tage zuvor angefertigt hatte. Sie hatte nur auf den großen Knall gewartet bis das Maß voll war. Der Reihe nach wurde alles verstaut. Schlafsack, Isomatte, Wechselkleidung warm und kalt, regenfeste Kleidung, Feuerzeug, Zahnbürste, Minihandtuch… Während des Packens war ihr auch die Lüge mit Tante Astrid als Alibi eingefallen.

      Genial.

      Unter Anwendung von Gewalt war es gelungen, die obere Schnalle gerade noch zu schließen, und der Rucksack wölbte sich wie eine gestopfte Wurst. Sie hatte das unförmige Ding auf das Bett plumpsen lassen, als ihr Blick auf den Ordnern und Büchern auf ihrem Schreibtisch hängen geblieben war. Schnell hatte sie alles in der Schultasche verschwinden lassen und sie mit dem schnippischen Kommentar:

      „Ab ins Körbchen“ unter das Bett gekickt. Das Mathebuch und den Atlas noch lose hinterher. Adios Amigos.

      Das war gestern gewesen und heute war sie bereits so weit weg von zu Hause wie lange nicht. Unfassbar! Eine Weile lief sie ziellos umher. Engelsberg gefiel ihr auf Anhieb. Klein genug, um sich halbwegs zu orientieren und groß genug, dass niemand einen beachtete. Vor sich sah sie einen Grünbereich etwas abseits des Haupttrubels. Sie wechselte die Straßenseite und querte die nächste Abbiegung. Dahinter erkannte sie eine größere Fläche mit Bäumen und gepflegten Sträuchern, durch die sich hübsch angelegte schmale Kieswege wanden. Es musste ein Stadtpark sein oder so etwas in der Art. Weil die Anlage hübsch aussah, schlenderte sie den erstbesten Weg hinein. Der Kies knirschte erfrischend unter ihren Turnschuhen. Lizzy sog ihre Lungenflügel bis auf den letzten Winkel voll mit duftender Frühlingsluft. Für Ende April war es mild. Über ihr zwitscherten fröhlich zwei Spatzen und schienen sich blendend zu unterhalten. Richtig schön war es hier. Inzwischen war es Nachmittag geworden und Lizzy fiel ein, dass sie sich noch nicht überlegt hatte, wo sie nachts schlafen konnte. Es würde sich schon etwas finden, man musste nur mit offenen Augen durchs Leben gehen, wie ihre echt coole Tante Astrid immer