Betroffenheit.
«Und das taten Sie dann auch.»
Achselzucken.
«Herr Marangos. Mich interessiert, wieso Sie nicht einfach auf dem nächstgelegenen Flugplatz gelandet sind?» Diese Frage beschäftigt Pavlides schon seit er das Innere des havarierten Flugzeugs erblickt hat.
«Ich weiss es nicht … Ich wollte gerade die Mayday-Meldung absetzen, als mir der Sicherheitsoffizier sagte, ich solle nach Hause fliegen. Sein Anblick … Also gab ich eine Pan-Pan-Meldung durch.»
«Pan-Pan?» fragt Pavlides.
«Konkrete, aber nicht akute Gefahr für Maschine und Passagiere. Damit fordert man im Luftverkehr eine bevorzugte Behandlung ein.»
«Ich verstehe. Und danach?»
«Ich stieg auf etwa viertausend Fuss und blieb auf dieser Höhe, um relativ schnell eine Notlandung einleiten zu können. Nahm Kurs zurück auf Griechenland. Ich hatte keine Ahnung, was in der Kabine vor sich ging. Dieser Mann sagte mir, ich solle nach Hause fliegen. Und genau das tat ich. In diesem Moment dachte ich, Krankdakis wünsche es so. Er habe seinen Leibwächter beauftragt, mir zu sagen, was zu tun sei. Nach einer Viertelstunde kam der Leibwächter erneut ins Cockpit herein. Er sah komplett fertig aus. Atmete schwer. Ich glaube, er hatte versucht jemanden wiederzubeleben. ‚Er ist tot’, sagte er nur, ‚tot, tot, tot.’ Erst jetzt begriff ich … Wissen Sie, mit der Technik fertig zu werden ist eines. Aber wenn Menschen zu Schaden kommen …»
Marangos macht eine Pause und starrt an die Decke. Totenstille im Krankenzimmer. Dann fährt er fort. Angestrengt.
Eine unglaubliche Konzentrationsleistung. «Wir waren gerade über Svilengrad, an der Grenze zum griechischen Luftraum. Da entschloss ich mich, Mayday abzusetzen und in Alexandroupolis notzulanden. Vielleicht zu spät …»
Schweigen. Pavlides richtet seinen Blick auf den Staatsanwalt, in dessen Gesichtszügen keine Regung festzustellen ist. Was mag jetzt wohl in seinem Kopf vor sich gehen? Überlegt er sich gerade, ob der Schaden an Leib und Leben geringer ausgefallen wäre, wenn Marangos eben doch auf einem bulgarischen Flugplatz notgelandet wäre?
«Das Flugzeug wird zum gegenwärtigen Zeitpunkt von den Spezialisten des Büros für Flugunfalluntersuchungen einer eingehenden Überprüfung unterzogen», meint schliesslich Traianos milde. «Fliegerisch, davon bin ich überzeugt, haben Sie alles getan, um die Maschine wieder heil auf den Boden zurück zu bringen.»
Marangos richtet sich wieder auf, um einen weiteren Schluck von seinem Becher zu nehmen.
«Was mich interessiert sind die Namen der Passagiere, Herr Marangos. Vom Verteidigungsministerium haben wir noch keine Angaben bekommen. Gibt es eine Passagierliste?» fragt Pavlides den Piloten.
«Ja, die gibt es. Elli, die Flugbegleiterin, hat sie. Sie ist für die Passagiere zuständig. Ich kenne die Leute in der Regel nicht. Ausser natürlich den Delegationsleiter. Mein Auftrag ist es, den jeweiligen Amtsträger von A nach B zu befördern. Und wieder zurück. Dessen Entourage wechselt ständig. Je nach Mission werden verschiedene Spezialisten, Ressortleiter oder Diplomaten mitgenommen. Fragen Sie Elli.»
Pavlides räuspert sich. «Das können wir leider nicht mehr. Die Flugbegleiterin … Elli ist tot.»
Marangos’ Gesicht verkrampft sich. Ein paar Atemzüge später, offene, flehende Augen. «Und Spiros, mein erster Offizier?»
Pavlides schüttelt den Kopf. «Tut mir leid, Herr Marangos. Ihr Co-Pilot hat den Zwischenfall ebenfalls nicht überlebt.»
Man kann davon ausgehen, dass Marangos einen inneren Kampf mit seinem Gewissen führt. Plötzlich taucht die Schuldfrage auf. Wie aus dem Nichts. Da meint man, man habe alles getan, um den Schaden möglichst gering zu halten und auf einmal realisiert man, dass es einem doch irgendwie nicht gelungen war.
«Bis auf Sie und den Sicherheitsbeamten des Vizeministers sind leider alle beim Zwischenfall ums Leben gekommen. Es tut mir leid.»
Apathisches Nicken von Marangos.
«Noch eine Frage», mischt sich Traianos wieder ins Gespräch ein. «Wissen Sie, wozu der Vizeaussenminister nach Moskau flog?»
Kopfschütteln. Nein, darüber würden Piloten nicht unterrichtet werden. Wie gesagt, ihre Aufgabe bestünde lediglich im Transport der Amtsträger. Und sonst gar nichts. Verbitterung in seinen Gesichtszügen.
Aris Asimoglou
Kurz nach halb elf ist es soweit. Der Tross des Verteidigungsministers fährt ein. Wie eine Soldateska. Aris Asimoglou ist eine kontroverse Gestalt. Jovial, auf Äusserlichkeiten bedacht, immer für einen unpassenden Spruch zu haben. Er pfeift auf politische Korrektheit, nennt den Oppositionsführer schon mal einen Mistkäfer und seine eigenen Parteikollegen Aasgeier, die nur auf seinen Posten aus seien. Zu Frauen hegt er ein unverkrampftes Verhältnis. Kürzlich nannte er auf einer Inspektionstour in Salamis vor laufender Kamera eine Offizierin der Marine ‚Bouboulina’ und kniff sie belustigt in den Po. Ihn umgeben zahlreiche Stiefellecker, die er verachtet, dank derer er aber sein Image aufrechterhalten kann. Asimoglou ist ein neoliberaler Karrieremensch, der den Aufstieg alleine geschafft hat: Ein Selfmademan. Aus einer smyrneischen Immigrantenfamilie stammend. Vater mässig erfolgreicher Textilhändler, dem Raki zugeneigt. Mutter, gute Seele, Hausfrau.
In einem Athener Aussenbezirk aufgewachsen, studiert er Chemie und betreibt nebenbei in einer Lagerhalle seines Vaters ein kleines Labor, wo er Kunststoff herstellt und in Formen presst. Dies geschieht zu einer Zeit, da die meisten Kommilitonen ihre Zeit mit unergiebigen politischen Diskussionen und sinnlosen Demonstrationen vergeuden. Asimoglou hingegen nutzt die beschränkten Freiheiten, die das diktatorische Obristenregime seinen Bürgern bietet. Vor allem die steuerliche Begünstigung für Unternehmer. Er gründet eine Firma, die Plastikteile und Isolationsmaterial produziert. Einfache Produktionsverfahren, tiefe Löhne, fehlender Arbeitnehmerschutz und eine wachsende Nachfrage nach billigen Kunststoffprodukten im In- und Ausland wirken sich positiv auf das Geschäft aus. Aus einer Produktionshalle werden zwei. Dann drei. Erste Kontakte zur ausländischen Geschäftswelt werden geknüpft. Das investitionsfreundliche Klima der jungen, griechischen Republik fördert dann ab 1976 abermals seinen rasanten Aufstieg. Und bald schon besitzt er ein stattliches Fabrikareal von mehreren tausend Quadratmetern ausserhalb Athens in Elefsis. Grossinvestitionen. Die Produktionsprozesse werden rationalisiert. Der Rest ist nur logische Konsequenz: Der Umsatz vervielfacht sich. Geldanlage in Immobilien, Nachdiplomstudium an der New Jersey City University, Executive MBA. Diversifizierung. Danach Einstieg in die Politik. Acht Jahre Abgeordneter der konservativen Nea Dimokratia im Parlament. Und schliesslich – vor drei Jahren – Ernennung zum Verteidigungsminister. Dabei hat er nicht einmal Militärdienst geleistet. Wegen eines längst verheilten Oberschenkelbruchs, den er sich als Jugendlicher bei einem Motorradunfall zugezogen hatte, wurde er dienstuntauglich.
Dass er jedoch über ausgesprochene Führungsqualitäten verfügt, ist unbestritten. Dies hat er mit dem Aufbau seiner Firmengruppe auf eindrückliche Art und Weise bewiesen. Um die eintausend Mitarbeiter zählt die ASIMOGLOU GROUP ABEE. Sein Erfolg und seine grosszügigen Parteispenden verhalfen ihm zum Posten des Verteidigungsministers. Das operative Geschäft hat er seinen Töchtern und deren Familien übertragen. Selbst in Griechenland ist es nicht erlaubt, gleichzeitig Minister und Wirtschaftskapitän zu sein. Obwohl es ansonsten natürlich anzustreben wäre.
Vor dem Eingang zur Intermediate-Care-Abteilung treffen Asimoglou und seine Entourage, begleitet von Klinikdirektor und Chefarzt, auf das Team des Staatsanwaltes und Pavlides.
«Ah, wen haben wir denn da? Traganos (griech.: knusprig), den Staatsanwalt», witzelt Asimoglou, indem er Traianos’ Namen in einen Kalauer packt. Man wird den Eindruck nicht los, dass sich hier