Achselzucken bei Charalambidis. «Das müssen Sie ihn schon selber fragen, Herr Direktor.»
Das Innere des Flugzeuges lässt Pavlides erschaudern. Was mag hier passiert sein? Ein riesiges Durcheinander. Als hätte ein homerischer Zyklop schwallartig in die Kabine gekotzt. Glassplitter, Bücher, Zeitungen, Schreibmaterial, Notebooks, oder was von solchen übrig ist, Taschen, offene Gepäckstücke, Kleider, zerbrochenes Geschirr, Esswaren, Getränke, allerlei Kleinkram. Alles liegt wirr durcheinander verstreut in der Kabine herum. Zerborstene Holzdekors, verbeulte Innenverkleidungen. Und überall Blut, Spuren schmieriger Flüssigkeiten, Halbverdautes. Der Geruch von frischem Blut vermengt sich mit dem säuerlichen Gestank von Erbrochenem. Ekelerregend.
«Haben Sie Fotos vom Innern gemacht?» fragt Pavlides Charalambidis.
Dieser bejaht. Einer der Männer, der als erster vor Ort war, hat zahlreiche Aufnahmen mit seinem Handy gemacht. Auch Filmsequenzen. Sogar während den Reanimationsversuchen der Rettungssanitäter.
Nicht gerade konform mit den Standard Operation Procedures und den Weisungen des Persönlichkeitsschutzes, aber in diesem Fall sinnvoll.
Jetzt heisst es Material sicherstellen. Alles. Sofort. Pavlides geht in sein berüchtigtes Befehlsstakkato über. Polizeifotograf?
Er ist zugegen. Der Mann dort hinten in zivil mit der Reportertasche.
An Charalambidis gewandt: «Sind Ihre Kripo-Leute da?»
«Ihnen zu Diensten, Herr Direktor. Drei Beamte der Kriminalpolizei, darunter auch der Teamleiter, Leventoglou.»
«Wo sind die Leichen?»
«Alle im Universitätskrankenhaus. Zur Obduktion.»
Na, ja. Gerade ideal ist das nicht. Pavlides hätte die Situation gerne so angetroffen, wie sie sich den Beamten im ersten Moment präsentiert hatte. Was soil’s. Wahrscheinlich dachten die, dass noch jemand zu retten wäre. Gut gemeint, massig gut ausgeführt. Pavlides wendet sich an Jorgos Kapsis, Übername «der Schlächter». Dieser steht auf der Flugzeugtreppe und schaut kopfschüttelnd ins Innere der Kabine. Der Gerichtsmediziner ist Dozent und leitender Arzt des Institutes für Rechtsmedizin an der Aristotelischen Universität. «Jorgos, du wirst die Autopsien leiten. Schau dir die Handybilder und Filmchen des Polizeibeamten an. Und schick mir Kopien davon!» Der Schlächter nickt kommentarlos. Offensichtlich hat auch er noch nie so etwas gesehen.
Pavlides richtet seine Worte wieder an Charalambidis: «Christos Arambatzis ist von der Spurensicherung. Er wird die Leitung der Untersuchungen vor Ort übernehmen. Ihr Fotograf und Ihr Spurenteam sind ihm ab sofort unterstellt.»
Charalambidis scheint erleichtert zu sein, dass die Delegation aus Thessaloniki nun das Heft entschlossen in die Hand nimmt. Bei Zwischenfällen, in denen prominente Bürger zu Schaden kommen, kann man als Chef der polizeilichen Behörde in der Provinz eigentlich nur verlieren. Schnell heisst es: Unfähig. In solchen Situationen gibt man die Verantwortung besser ab.
«Wollen Sie jetzt ins Krankenhaus fahren?» fragt Charalambidis devot.
«Nein», antwortet Pavlides dezidiert. «Wir warten hier auf den Staatsanwalt. Fragen Sie mal den Tower, wann er ankommt. Und geben Sie der Pathologie Bescheid, man solle die Leichen nicht antasten!» Damit steigt er wieder aus dem Flugzeug. «Ach ja, und besorgen Sie Polizeischutz für die beiden Verletzten.»
Man kann ja nie wissen.
Es ist halb eins, als die Maschine des Staatsanwalts landet. Das Flugzeug hält in unmittelbarer Nähe zur Unglücksmaschine. Die Türe geht auf und Miltiades Traianos eilt die Treppe runter. Hinter ihm weitere sechs Personen. Traianos’ Sekretärin, zwei junge Untersuchungsrichter, ein Sicherheitsbeamter und zwei Männer der Flugunfall-Untersuchungsbehörde. Das übliche Aufgebot für solche Fälle. Als Traianos Pavlides erblickt, kommt er sofort auf ihn zu.
«Pavlides! Schön Sie zu sehen. Eine Sauerei?»
«Sehen Sie selbst, Herr Staatsanwalt.»
Pavlides legt seinen Arm um dessen Schulter. Das Männchen ist, so scheint es, seit ihrer letzten Begegnung etwas geschrumpft. Sein Gang aber ist noch immer fest und entschlossen. Der Blick hinter den flaschenbodendicken Brillengläsern unruhig. Suchend. Wie ein elektronisches Kameraauge. Er mag vielleicht schon um die siebzig Jahre alt sein, aber er steht immer noch – unermüdlich – dem Staate Griechenlands zu Diensten. Ein integrer Mann. Das erste Mal begegneten sie sich vor dreizehn Jahren beim Anschlag auf die VERGINA STAR im Hafen von Thessaloniki. Traianos leitete die Untersuchungen auf Staatsebene. Er mag ergraut sein, aber sein Geist ist hellwach. Selbst zu dieser fortgeschrittenen Tageszeit.
Traianos äussert sich, die Hochsprache gebrauchend, schockiert über den ihm gebotenen Anblick. Der gewaltsame Unfalltod des Vizeministers Kranidakis macht ihm sichtlich zu schaffen.
«Ich kann es kaum fassen», meint er mit leiser, gepresster Stimme, als er sich, mitten im Chaos stehend, umsieht. «Nassios war ein herzensguter Mensch. Umsichtig, klug, unbestechlich. Ein Politiker mit Prinzipien.
Ein PASOK-Mann der alten Garde, aber ein Realist, der sich immer zum Wohle seiner Heimat eingesetzt hat.» Er macht eine Pause. «Können wir die Leichen sehen?»
«Ja, im Universitätsklinikum.»
Traianos blickt verwundert auf.
«Im Originalzustand. Die Autopsie hat noch nicht stattgefunden», präzisiert Pavlides.
«Gut. Ich nehme an, Sie haben die kriminaltechnischen Untersuchungen hier vor Ort angeordnet.»
«Selbstverständlich.»
«Entáxi. Dann lassen Sie uns ins Krankenhaus fahren. Hier können wir ohnehin nichts mehr tun. Die Beamten vom Flugunfall-Büro, einer meiner beiden Untersuchungsrichter und Ihre Spezialisten sollen mit den Untersuchungen zur Sicherstellung des Beweismaterials beginnen. Ich möchte nun gerne Nassios’ Leiche sehen. Und hernach den Überlebenden etwas Mut zusprechen. Páme, gehen wir!»
Befragung
Kurz nach acht Uhr morgens sitzen Traianos, Pavlides und Livanou am Frühstückstisch im Hotel Nefeli, unweit des Universitätskrankenhauses an der Verbindungsstrasse zwischen Komotini und Alexandroupolis. Das Hotel ist ein komfortabel eingerichtetes Haus mit bequemen Betten, auf die sie sich um drei Uhr morgens ausgelaugt gestürzt haben. Staatsanwalt Traianos wollte nach dem nächtlichen Besuch der aufgebahrten Leichen und der kurzen Stippvisite bei den Verletzten nicht mehr in die Stadt hineinfahren, sondern sich in der Nähe ein Zimmer suchen. Um frühmorgens gleich wieder die Arbeit aufnehmen zu können. Eine erste Befragung des Piloten steht an. Um zehn Uhr wird Verteidigungsminister Aris Asimoglou aus Athen erwartet. Und um zwölf Uhr ist eine Pressekonferenz anberaumt, zu der zahlreiche Medienvertreter aus dem In- und Ausland erwartet werden. Nicht hier, sondern im luxuriösen ‚Astir Egnatia’, mitten in der Stadt. Für Asimoglou muss das Ambiente repräsentativ sein.
Die Stimmung ist gedrückt, was einerseits am Schlafmanko liegt, andererseits an den tragischen Umständen, die es aufzuklären gilt. Livanou hat sich am Frühstücksbuffet bedient und setzt sich neben Pavlides. Den Blutzucker hat sie sich schon im Zimmer gemessen und zwölf Einheiten Insulin gespritzt. Das Frühstück ist ihre wichtigste Mahlzeit. Man sieht’s: Zwei Croissants, Butter, Orangen- und Sauerkirschen-marmelade, griechisches Joghurt mit Fruchtsalat, Walnüssen und Honig. Dagegen fällt Pavlides’ Frühstück mager aus: Zwei trockene Koulourákia und ein starker Kaffee, métrios. Dazu eine Sourotí. Anregendes, erdig-metallisch schmeckendes Mineralwasser.
Staatsanwalt Traianos schaut verwundert auf Livanous Teller.
«Diabetes», meint diese beiläufig und nimmt einen Schluck Kaffee. Dieser allerdings ist ungesüsst. So hat sie ihn am liebsten. «Typ 1. Insulinpflichtig. Habe schon gespritzt.»
«Oh», meint Staatsanwalt Traianos, «ich bin auch Diabetiker. Alterszucker,