Schließlich hatte man Friedgard zurück nach Heidelberg aufs Pädagogium geschickt. Aber dann war er vor zwei Jahren zurückgekehrt, obwohl seine Eltern nichts sehnlicher wünschten, als dass er sich in der kurfürstlichen Rechenkammer sein Auskommen sicherte, sich nach Stand verheiratete und in Heidelberg niederließ. Doch das wollte er nicht. Er hatte das Studium der Rechte abgebrochen, war mit einundzwanzig Sekretär in der Kanzlei geworden, hatte festgestellt, dass ihn sowohl das Kanzleigerangel als auch Heidelberg abstießen, und hatte sich als Gerichtsschreiber nach Hockenheim bestallen lassen. Und kaum war er zurück, der junge Skribent, hatte er die Anhänglichkeit aus Kindertagen erneuert und seine Besuche bei ihr wieder aufgenommen. Margaretes Wut war wieder aufgeflammt. Dahin ihre ehrgeizigen Träume für ihren Sohn. Wer wollte es ihr also verdenken, dass sie …
»Ich kann ihr nicht begreiflich machen, dass Ihr mir nicht die Mutter ersetzt«, unterbrach Friedgard ihre Gedanken. »Dass Ihr ihr nichts wegnehmt, denn ich bin nicht Euer Sohn.«
»Auch nicht ihr Liebhaber?«, vernahmen sie Katharinas Stimme von der Hintertür.
Barbara fuhr herum und sah ihre Mutter verdutzt an.
»Mutter, was sollte das?«
»Na«, machte Katharina und zuckte die Schultern. Sie schabte die Kräuter in den Brei und rührte ihn mit dem Messer um.
»Mutter!«
»Hab’s nie gesagt, aber’s gibt Geschwätz. Schon länger. Ich halte dagegen, aber wer glaubt schon einem alten Weib, zumal sich’s um ihre Tochter handelt.«
»Aber …!« kam es wie aus einem Munde. Barbara sah Friedgard aufgeschreckt an.
»Na, bist eine ansehnliche Wittib, kein Mann in Sicht außer diesem jungen Burschen, der im Haus ein und aus geht, da denken sich die Leute ihren Teil.«
Friedgard klappte der Kiefer runter. Auch Barbara war sprachlos. Nie war ihr etwas Derartiges zu Ohren gekommen. Aber wann sagten einem die Leute schon mal was direkt ins Gesicht?
Katharina, das Messer in der Luft, ergänzte: »Und du, junger Freund, machst keine Anstalten, dich zu verheiraten. Das Alter hast du inzwischen. Und deine sechzig Gulden im Jahr bestimmt auch. Wie viel Malter Korn dazu? Hafer? Einen halben Fuder Wein?«
»Ihr wisst aber gut Bescheid, Frau Großhans«, gab Friedgard zurück. Missgestimmt schürzte er die Lippen.
Katharina winkte nur ab. Friedgard entspannte sich wieder und zuckte die Schultern. »Sei’s drum. Wir sollten etwas dagegen unternehmen.«
»Was denn? Die Leute reden, was sie wollen. Oder willst du uns künftig nicht mehr besuchen?«
»Natürlich nicht.«
»Du must heiraten!«, meinte Katharina.
»Wen denn? Agnes etwa?« Er hielt Katharina seine Schale hin, damit sie ihm Hirsebrei auftun konnte.
»Mach’s wie dein Freund Baumann! Frag herum, wer eine Tochter hat. Du wirst doch aus deiner Zeit in Heidelberg Verbindungen haben.«
Barbara hielt Katharina ebenfalls ihre Schale hin. Sie war wie benommen davon, was man ihr und Friedgard unterstellte. Nie wäre sie auf einen solchen Gedanken gekommen.
»Frau Heilmann, wie ist es mit Euch?«, fragte Friedgard.
»Was?«
»Nun, mit Verlaub, warum ich?«
»Warum du was?«
»Eure Worte sind oft spitz und schroff. Doch Eure Erscheinung ist weich, umflort von einem warmen Rostton, angenehm wie dunkles Holz. Warum heiratet Ihr nicht wieder?«
Sie war so überrascht, dass sie den Löffel fallen ließ.
Katharina lachte ihr schnarrendes Lachen. »Gut gemacht, Junge!«
Barbara spürte, wie ihr die Röte in die Wangen stieg. Sah er sie wirklich so? So … so … auf so hübsche Art? Seit Leonhards Tod hatte sie keinen einzigen Augenblick an eine Wiederheirat gedacht. Wegen Leonhard nicht und nicht mit diesem … Makel. Friedgards Worte trafen sie ins Mark. Er bemerkte es.
»Ich meine ja nur«, flüsterte er verlegen. »Auch Ihr könntet wieder … ich meine …«
»Lass gut sein, Junge!«, mischte Katharina sich ein. »Iss, bevor alles kalt wird.«
Sie löffelten schweigend.
Barbara hatte Katharina im Verdacht, extra laut zu schmatzen, um die unangenehme Stimmung zu vertreiben. Mit einem Mal musste sie schmunzeln. Sie sah zu Friedgard hin. Er erwiderte ihren Blick. Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. Sie leckte ihren Löffel ab und schlug ihm damit sanft auf die Backe. »Lümmel!«, sagte sie weich. »Und nun sag uns endlich, wo du gesteckt hast den ganzen Morgen!«
Er wurde wieder rot.
»Nun? Wir hören!«, mampfte Katharina.
Friedgard legte den Löffel beiseite und rang sichtbar mit sich. Schließlich sagte er: »Ihr wisst ja von meinem Versuch, eine Geschichte zu schreiben …« Er stockte, sah Barbara an und fuhr fort: »Ich habe Euch davon erzählt, wie schwer das ist …«
Barbara wusste um den Kampf, den er mit sich ausfocht, weil er mit dem Schreiben nicht so vorankam, wie er es sich wünschte. Oder wie er dachte, wie es sich gehörte.
»Du kommst also voran und arbeitest an einer Heldengeschichte?«, fragte sie deshalb aufmunternd, auch wenn sie sich nicht wirklich etwas darunter vorstellen konnte. Natürlich kannte sie Erzählungen, natürlich gab es Menschen, die sie aufschrieben, aber eine eigene, neue Geschichte erfinden, wie Friedgard es wollte?
»Also, hinter der Schwopschen Mühle, da gibt es die Wiese mit der winzigen Hütte des Müllers, wo er alte Säcke und Tand aufbewahrt. Dort ist es ruhig, nur das Murmeln des Bachs und das Ächzen des Mühlrades. Dort fühle ich mich … ungestört eben.« Friedgard unterbrach sich. Erklärend fügte er hinzu: »Dort schreibe ich. In der Schreibstube kommt ja alle Nase lang einer gerannt. Und daheim ist stets so viel Umtrieb mit den Schwestern und so.«
»Du hast also einen Geheimplatz«, sagte Katharina und es klang zufrieden.
Barbara fiel noch etwas anderes ein. »Hab Weißmannen im Dorf gesehen. Was wollen die hier? Ist irgendetwas los?«
Friedgard nickte. »Denke, die müssen sich besprechen wegen dem Geleitzug im Mai«, verkündete er schließlich. »Einige von ihnen werden den Kurfürst nach Dillenburg begleiten. Der will, dass seine Königsleute dabei sind, wenn er zur Braut zieht. Aber …« Er hob beide Hände abwehrend hoch. »Das geschieht unter dem Siegel der Verschwiegenheit, in aller Eile und Heimlichkeit. Kurfürst Friedrich will die Untertanen nicht unnötig beschweren, wie er sagt. Alles leeres Geschwätz, wenn ihr mich fragt. Es ist Politik, nichts weiter. Wir Reformierten stehen nicht im Schutz des Religionsfriedens. Die lutherischen und katholischen Fürsten sitzen uns im Nacken, behaupten, dass man uns im Reich nicht dulden dürfe. Erinnert euch daran, wie der Kaiser im vergangenen Jahr in Aachen bestimmte, die Reformierten seien den Mitgliedern erlaubter Konfessionen nicht zuzuzählen. Ich sage euch, es geht mit dieser Hochzeit nur darum, mit den Wetterauer Grafen das calvinistische Bündnis zu stärken und die Kurpfalz zu stützen.« Friedgard kratzte den letzten Rest Brei mit dem Löffel zusammen.
»Nichts, was wir nicht auch wüssten!«, winkte Katharina ab und gab Friedgard damit zu verstehen, dass er keine Regierungsgeheimnisse ausplauderte. Womit sie Recht hatte. Der junge Friedrich wollte sich mit Prinzessin Louise Juliane vermählen, der Tochter Wilhelms von Oranien und Nichte Graf Johanns des Älteren von Nassau-Dillenburg, einem der Wetterauer Grafen. Der war ein einflussreicher Ratgeber Johann Casimirs gewesen, dem vorjährig verstorbenen Administrator und Oheim des jungen Friedrich.