»Und Baumann braucht Hilfe!«, wagte Barbara einen Zwischenruf. Es missfiel ihr, dass man Zeit mit Geschwätz zubrachte, statt den Lehrer endlich in seine Wohnung zu schaffen, zumal der Regen heftiger wurde.
»Ihr habt recht, Heilmännin«, sagte Würth und nickte, »Schafft Baumann fort.«
Eine Trage wurde gebracht und neben Baumann abgesetzt. »Seid vorsichtig,« sagte Barbara zu Reinhardt und Gundt, »wir wissen nicht, ob er nicht auch etwas gebrochen hat.«
Sie bemerkte den Blick, mit dem Zentgraf Zahn den Verletzten bedachte. Angespannt. Vorwurfsvoll. Etwas quälte Zahn. Ihr fiel ein, was er zuvor gemurmelt hatte: ›Wieso hier?‹ Was hatte das zu bedeuten?
Die Ankunft von Reitern aus Reilingen zerstreute ihre Gedanken. Barbara blickte flüchtig zu ihnen hin. Königsleute. Vier Mann in dunklen Umhängen, auf ihren breitkrempigen Hüten leuchteten weiße Federn, zerdrückt vom Regen. Sie grüßten. Einer fragte, ob Hilfe benötigt wurde. Ein Großer mit dunklem Haar und Augen, schwarz wie die Nacht. Und mit dunklen Linien am unteren Lidrand als hätte er sich Kohle aufgestrichen.
Barbara kannte weder ihn noch die anderen. Wie die meisten im Ort hatte auch sie nichts mit den Königsleuten zu schaffen. Die Bauernkrieger um Schloss Wersau blieben gerne unter sich. Sie nickte nur flüchtig zum Gruß, dann fasste sie vorsichtig Baumanns Schulter, um Reinhardt und Gundt zur Hand zu gehen, die den Verletzten auf die Trage hievten. Der Große mit den schwarzen Augen war auf einmal neben ihr. Er fasste den Verletzten vorsichtig um die Körpermitte und zog ihn vollständig auf die Trage.
»Was ist ihm widerfahren?«, erkundigte er sich.
Da Reinhardt und Gundt Barbara anblickten, sah auch der Königsmann ihr ins Gesicht. Barbara gewahrte die feinen Fältchen seitlich seiner nachtschwarzen Augen, da er sie freundlich anlächelte. Er mochte etwa so alt sein wie sie selbst, Mitte der dreißig. Ein stattlicher Mann. Mit höflicher Anteilnahme erwartete er die Antwort.
»Das wird er uns hoffentlich sagen, wenn er wieder zu sich kommt«, entgegnete sie.
»Ihr seid heilkundig?«
»Heilmännin«, unterbrach Zahn, »es ist keine Karre hier, um Euch mitzunehmen, seht zu, dass Ihr mit den anderen Schritt haltet!« Der Königsmann erbot sich, sie auf seinem Pferd mitzunehmen. Sie lehnte ab, nickte als Gruß und eilte hinter den beiden Männern mit der Trage her.
5
Inzwischen schüttete es wie aus Eimern. Zum Glück hatte Barbara es nicht weit von Baumanns Wohnung zu ihrem eigenen Haus. Der Lehrer wohnte zur Miete in der Gemeindegasse und die lag um die Ecke vom Heidelberger Weg. Barbara hastete auf das kleine Lehmfachwerkhaus am Ende der Gasse zu. Es war einfach, das Dach mit Holzschindeln gedeckt. Es war ihr Elternhaus, hier wohnte sie seit dem Unglück vor fünf Jahren. Vor zwei Jahren hatte Mutter ihr das Haus übereignet und sich selbst lebenslanges Wohnrecht eingeräumt.
Sie stieß die Eingangstür auf. Dämmrige Wärme und Geruch nach getrockneten Kräutern, Hirsebrei und ausgelassenem Speck füllte die Küche.
»Na!«, grüßte Katharina.
Ihre Mutter saß auf ihrem angestammten Platz auf der Bank.
Ihr gegenüber am Tisch lehnte Friedgard behaglich im Stuhl, hatte Schreihals auf dem Schoß und kraulte sie unterm Kinn, das diese weit vorstreckte.
»Ach hier steckst du!«, sagte Barbara anstelle eines Grußes.
Friedgard lächelte sie an. »Ich habe mich zum Mittagessen eingeladen«, sagte er fröhlich.
»Erzähl schon!«, drängte Katharina und hob ihren Zinnbecher in Barbaras Richtung. Barbara roch das Bier darin. Würzig und streng. Ihre Mutter braute es seit alters her und scherte sich nicht um Anordnungen. Entsprechend schmeckte es.
»Sie haben dich gesucht!«, sagte Barbara zu Friedgard.
»Mich? Weshalb?«
Barbara hängte den nassen Umhang an einen Nagel neben der Hintertür.
»Weil du aufschreiben solltest, was Baumann zu sagen hätte, falls er zu Bewusstsein kommt. Aber er kam nicht zu Bewusstsein.«
Mit einem Satz sprang Friedgard auf, Schreihals landete unsanft auf dem Lehmboden und guckte verwirrt. »Der Verletzte ist Hartmann?«
Sie nickte und setzte sich auf die Bank unter dem hinteren Fenster. Sie zerrte sich die nassen Schuhe von den Füßen. Ihre Wollsocken waren ebenfalls feucht. Sie zog sie aus, schlug das linke Bein übers Knie, knetete den Fuß und berichtete, was geschehen war.
Während sie erzählte, lief Friedgard auf und ab.
»Und er ist noch immer nicht bei Bewusstsein?«, fragte Friedgard, nachdem sie geendet hatte.
Barbara schüttelte den Kopf. »Ein Segen für ihn, Meister Bastian musste ihn nähen. Johanniskrauttinktur, Nussöl und Honig hatte ich dabei. Wir haben ihm einen Verband angelegt und Bader Bastian sorgte mit einem opiumgetränkten Schwamm zudem dafür, dass er schläft. Wenn er erwacht, wird ihm der Schädel brummen wie ein Bienenstock.«
»Ich muss zu ihm!«
»Geh am Abend zu ihm. Ich gebe dir einen Kräutersud für ihn mit und Eier. Du kannst einen Krug Roten bei deinem Vater abzapfen. Flöße ihm ein Gemisch daraus ein.«
»Was denkst du, Tochter?«
Barbara sah Katharina kurz an, äugte dann auf das Brot. Sie spürte ihrer Mutter und Friedgards Blicke auf sich.
Friedgard setzte sich wieder. Für einen Augenblick ließ sie sich von seiner Schönheit verzaubern, die großen, rehbraunen Augen, die gerade Nase, seine Pfirsichhaut, die er von seiner Mutter geerbt hatte, und die bei ihm genauso wenig welken würde wie bei ihr. Seine Haare hatten das Goldgelb von Johanniskrautblüten, er trug sie länger, als derzeit Mode war. Für einen Augenblick war sie versucht, ihm durch die Sonnenlocken zu wuscheln wie sie es so oft getan hatte, als er noch ein Knabe war. Sie tat es nicht. Er war sechsundzwanzig und kein Knabe mehr.
»Und?«, machte er und schürzte die Lippen.
»Er wird es überstehen«, sagte sie.
»Was noch?«, fragte Katharina, die, das merkte Barbara deutlich, zu Recht vermutete, dass da noch mehr war.
Schreihals maunzte, und als Friedgard nicht darauf einging, schlüpfte sie unter dem Tisch hindurch und nahm ihren Platz neben Katharina auf der Bank ein.
»Nun gut.« Barbara fuhr sich mit dem Handrücken unter der Nase lang. »Ich frage mich, warum Johannes Zahn es für nötig erachtet, höchstpersönlich nach dem Verletzten zu sehen. Kaum dass der Bader und ich ihn in seiner Wohnung zu behandeln begannen, trampelt er herein wie ein wildgewordener Ochse und will ihn befragen. Befragen! Einen Bewusstlosen. Er glaubte nicht, was Meister Bastian ihm sagte: dass nämlich Baumann vorerst nichts von sich gibt. Und er tobte, weil er dich nicht finden konnte.«
Sie sah Friedgard in die Augen. »Wo warst du eigentlich? Deine Schreibstube leer, im gesamten Rathaus keine Spur von dir.«
»Hast du uns was verschwiegen, Junge? Wird aber auch Zeit!«, grinste Katharina. »Wer ist sie?«
Friedgard wurde rot.
»Das wird deiner Verehrerin aber gar nicht gefallen. Agnes war auch draußen und ganz versessen darauf, dich beizuholen«, ging Barbara auf die Anspielung ihrer Mutter ein.
Friedgard stöhnte auf und raufte sich in gespielter Verzweiflung die Locken. »Genug der schrecklichen Nachrichten!«
Barbara schmunzelte und Katharina schob den Bierkrug näher zu Friedgard hin. »Hier Junge, stärke dich!«
Barbara bemerkte erst jetzt, dass auch vor Friedgard einer der beiden fein ziselierten Zinnbecher stand, die ihrer Mutter gehörten, und welche diese ebenso hütete, wie sie selbst ihre zwei mit Emaile umzierten Glashumpen. Kein anderer Besucher erhielt diese Ehre.
»Nicht dass sie nicht ansehnlich wäre.