„Ja, was war es?“ fragte Frau Corney. Sie beugte sich schnell über das Weib, um die Antwort zu vernehmen, aber sie prallte zurück, als die Sterbende sich noch einmal langsam und steif aufrichtete, die Decke mit beiden Händen krampfhaft faßte, und nachdem sie einige unverständliche Worte gemurmelt hatte, leblos auf die Kissen zurücksank.
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„Maustot“, sagte die Wärterin, als Frau Corney die Tür wieder geöffnet hatte.
„Und wußte auch nichts Wichtiges zu erzählen“, bemerkte die Matrone in gleichgültigem Tone. Damit ging sie.
Fünfundzwanzigstes Kapitel
Worin unsere Geschichte zu Herrn Fagin und Genossen zurückkehrt
Während sich diese Ereignisse im Armenhause zutragen, saß Herr Fagin am rauchenden Kamin, still vor sich hinbrütend, in seiner alten Höhle, aus der Oliver von Nancy neulich abgeholt worden war. Er war in tiefe Gedanken versunken und blickte in völliger Geistesabwesenheit in das trübe Feuer.
An einem Tische hinter ihm saßen der Gannef, Karl, Bates und Herr Chitling bei einer Partie Whist. Der Gannef spielte mit dem Strohmann gegen die beiden anderen. Es war merkwürdig, daß diese dauernd verloren, ein Umstand, der Herrn Bates nicht etwa aufbrachte, sondern höchlichst amüsierte. Er lachte nach Beendigung jedes Spiels hell auf und versicherte, daß er sich noch nie so gut unterhalten hätte. Als Herr Chitling nach Bezahlung seiner Spielschuld mit kläglicher Miene sagte: „Ich habe nie einen Spieler wie dich gesehen, Jack, denn du gewinnst ja immer. Selbst wenn wir gute Karten haben, können wir gegen dich nicht aufkommen“, brach Karl Bates in ein derartiges Gelächter aus, daß der Jude aus seinen Grübeleien gerissen wurde und verwundert fragte, was los sei.
„Ich wollte, Sie hätten dem Spiele zugesehen, Fagin. Tommy Chitling hat nicht einen Point gewonnen.“
„Ei, ei“, sagte der Jude grinsend, der des Gannefs Mogelei hinreichend kannte, „versuch’s nochmal, Tom, versuch’s nochmal!“
„Danke, Fagin, ich verzichte, habe vollkommen genug. Der Gannef hat ein solches Schwein, da ist nichts zu machen.“
„Ja, Freundchen, wenn du gegen den Gannef gewinnen willst, mußt du früher aufstehen“, versetzte der Alte.
„Nein“, sagte Karl Bates, „er muß am besten auch noch die ganze Nacht die Stiefel anbehalten und sich für jedes Auge ein Fernrohr besorgen. Dann kommt er vielleicht früh genug und ist passend ausgerüstet, um gegen den Gannef erfolgreich anzukämpfen.“
Herr Dawkins nahm diese Schmeicheleien mit philosophischer Ruhe hin und zeichnete zu seinem Vergnügen einen Plan des Newgate-Gefängnisses mit Kreide auf den Tisch. Er pfiff sich dazu ein Lied.
Nach einer Weile sagte der Gannef zu Herrn Chitling: „Weißt du, Tommy, du bist doch mächtig stumpfsinnig. – An was mag er wohl denken, Fagin?“
„Wie sollte ich das wissen, wahrscheinlich an seinen Verlust oder an den sechswöchigen Landaufenthalt, den er eben hinter sich hat. Ha, ha! Stimmt’s, Tommy?“
„Ach wo“, rief der Gannef, Herrn Chitling in die Rede fallend, der eben antworten wollte. „Was meinst du, Karl?“
„Ich glaube“, sagte dieser grinsend, „er denkt an Betsy, hinter der er mächtig her ist. Seht, wie er rot wird. Das ist ein Hauptspaß! Tommy Chitling verliebt! Fagin, ist es nicht zum Totlachen?“
„Ach, laß Ihn in Ruhe“, sagte der Jude mißbilligend und puffte Karl in die Seite. „Betsy ist ein nettes Mädel. Mach dich nur an sie ran, Tommy.“
„Ein für allemal, Fagin“, schrie Herr Chitling mit rotem Kopf, „das ist meine Sache, die keinen Menschen hier etwas angeht.“
„Du hast vollkommen recht“, sagte der Jude, „aber Karl muß immer schwatzen, das weißt du doch. Betsy ist ein nettes Mädel, und wenn du tust, was sie dir rät, wirst du dein Glück machen.“
„Horcht!“ rief der Gannef in diesem Augenblick, „ich habe die Klingel gehört.“ Er ergriff das Licht und schlich sachte die Treppe hinauf.
Während die übrigen sich im Dunkeln befanden, ertönte die Klingel abermals. Nach einer Minute erschien der Gannef wieder und flüsterte Fagin geheimnisvoll etwas zu.
„Was?“ schrie der Jude, „allein?“
Der Gannef nickte und gab Karl einen vertraulichen Wink, weniger lustig zu sein.
Der alte Mann biß sich in seine gelben Finger und überlegte einige Augenblicke. Sein Gesicht zeigte Spuren großer Aufregung, als fürchte er schlimme Nachrichten zu erhalten. Endlich erhob er den Kopf und fragte: „Wo ist er?“
Der Gannef deutete nach oben und machte Anstalten, das Zimmer zu verlassen.
„Ja“, sagte der Jude als Antwort auf diese stumme Frage, „bring ihn herunter. Pst! – stille, Karl! – leise! – Tom! Sachte!“
Totenstille trat ein, als der Gannef mit einem Mann die Treppe herunterkam, der ein großes, sein Gesicht halb verhüllendes Tuch abwarf, nachdem er sich vorher hastig im Zimmer umgesehen hatte. Es war der schmucke Toby Crackit, ungewaschen und unrasiert.
„Wie geht’s dir, Fagin?“ sagte er. „Steck das Tuch nur in meinen Hut, daß ich es finden kann, wenn ich wieder gehe, Gannef. Aber ehe ich von Geschäftssachen rede, schafft erst etwas zu essen und trinken herbei, damit ich zum erstenmal seit drei Tagen wieder ein paar Krümel in den Magen bekomme.“
Fagin befahl dem Gannef, was an Eßbarem da war, aufzutischen, und setzte sich dem Einbrecher gegenüber, der Mitteilungen harrend, die dieser nun machen würde.
Es hatte nicht den Anschein, als ob es Toby sehr eilig habe, das Gespräch zu eröffnen. Anfangs begnügte sich der Jude, geduldig sein Gesicht zu beobachten, um darin etwas zu lesen. Vergebliche Mühe. Toby sah zwar ermüdet und übernächtigt aus, aber seine Gesichtszüge zeigten dieselbe selbstgefällige Ruhe, die ihm gewöhnlich eigen war. Fagin zählte ungeduldig jeden Bissen, den der Einbrecher in den Mund steckte. Plötzlich sprang der Jude auf und ging unruhig im Zimmer auf und ab. Toby aß gleichmütig weiter, bis er nicht mehr konnte. Dann forderte er den Gannef auf, sich zu entfernen, und schickte sich endlich zu sprechen an.
„Zuerst und vor allen Dingen, Fagin was macht Bill?“
„Was?“ schrie der Jude vom Stuhl aufschnellend, auf den er sich inzwischen wieder gesetzt hatte.
„Donnerwetter, du willst doch nicht etwa sagen, daß – “, stotterte Toby und wurde blaß wie der Tod.
„Was sagen?“ schrie Fagin wütend und stampfte mit dem Fuße auf. „Wo sind sie? – Sikes und der Junge! – wo sind sie? – wo sind sie geblieben? – wo stecken sie? – warum sind sie nicht hier?“
„Der Einbruch mißglückte“, erwiderte Toby leise.
„Das weiß ich“, sagte der Jude und riß eine Zeitung aus seiner Tasche; „da steht es drin. Was noch?“
„Sie schossen, und der Junge wurde getroffen. Wir rannten wie die Besessenen, querfeldein, über Hecken und Gräben. Man machte Jagd auf uns. Es war zum Teufel holen, die ganze Gegend war hinter uns her, und Hunde uns auf den Hacken!“
„Und der Junge?“ keuchte Fagin.
„Bill hatte ihn auf dem Rücken und jagte mit ihm dahin wie der Wind. Nach einer Weile blieben wir stehen, um ihn zwischen uns zu nehmen; er ließ jedoch den Kopf hängen und rührte sich nicht. Die Verfolger kamen immer näher, und da hieß es, jeder ist sich selbst der Nächste, wenn er nicht Bekanntschaft mit dem Henker machen wollte. Wir trennten uns und ließen den Jungen in einem Graben liegen, ob tot oder lebendig, weiß ich nicht.“
Der Jude wollte nichts mehr hören, er raufte sich die Haare und brüllte laut auf. Dann rannte er aus dem Zimmer auf die Straße hinaus.
Sechsundzwanzigstes