Unweit der Stelle, wo Snow-Hill und Holborn-Hill zusammentreffen, führt ein enges und häßliches Gäßchen nach Saffron-Hill. In seinen schmutzigen Läden sind große Haufen seidener Taschentücher von jeder Größe und den verschiedensten Mustern zum Verkauf gestellt, denn hier wohnen die Handelsleute, die sie den Dieben abkaufen. Hunderte solcher Tücher flattern, mit hölzernen Klammern befestigt, an Ladentür und Schaufenster, während im Innern ganze Stöße derselben in den Regalen liegen. So klein auch das Gäßchen, mit Namen Fieldo-Lane, ist, so hat es doch seinen Friseur, sein Café, seine Kneipe und seine Garküche. Es bildet eine eigene Handelskolonie, ein Stapelplatz gestohlener Waren. Frühmorgens und im Abenddunkel erscheinen schweigsame Handelsleute, die in düsteren Hinterzimmern ihre Geschäfte abschließen und dann ebenso geheimnisvoll wieder verschwinden, wie sie gekommen sind. Hier legt der Trödler und Lumpenhändler seine Ware als Aushängeschild für den kleinen Dieb aus.
Dies war der Ort, wohin der Jude seine Schritte lenkte.
Er war den Bewohnern des Gäßchens gut bekannt, denn viele von ihnen, die sich des Kaufs oder Verkaufs wegen lauernd vor ihren Läden aufhielten, nickten ihm bei seinem Vorübergehen vertraulich zu. Er erwiderte die Begrüßung in gleicher Weise, jedoch ohne anzuhalten. Am äußersten Ende der Gasse blieb er endlich stehen und redete einen kleinen Mann an, der so viel von seiner Person in einen Kinderstuhl gezwängt hatte, als dieser aufnehmen konnte. Der Handelsmann saß vor seinem Laden und rauchte eine Pfeife.
„Ach, Herr Fagin, Ihr Anblick ist Labsal für Verschmachtende!“ sagte der ehrenwerte Händler in Erwiderung auf des Juden Frage nach seinem Befinden.
„Die Nachbarschaft war mir ein wenig zu heiß, Lively“, versetzte Fagin und zog die Augenbrauen hoch.
„Ja, diese Klagen sind mir auch ein paarmal zu Ohren gekommen“, antwortete der Trödler, „aber es wird auch mal wieder weniger heiß; meinen Sie nicht auch?“
Fagin nickte zustimmend und fragte dann, indem er nach Saffron-Hill zeigte, ob heute abend wohl jemand dort wäre.
„In den ‚Krüppeln‘?“ fragte das Männchen. Fagin nickte.
„Muß mal nachdenken. Ja, soviel ich mich entsinnen kann, sind ungefähr ein halbes Dutzend hingegangen. Ich glaube aber nicht, daß Ihr Freund dabei war!“
„Sikes also nicht?“ fragte Fagin enttäuscht.
„Non est ventus, wie die Rechtsgelehrten sagen“, entgegnete der kleine Mann mit einem pfiffigen Blick und schüttelte verneinend den Kopf. „Haben Sie heute nichts zu verkaufen?“
„Nein, heute nicht“, sagte der Jude und wandte sich zum Gehen.
„Gehen Sie in die ‚Krüppel‘, Fagin?“ fragte das kleine Männchen. „Warten Sie einen Augenblick, ich komme mit.“
Doch der Jude gab ihm zu verstehen, daß er es vorziehe, allein zu sein. Und da sich obendrein der kleine Mann nicht so leicht von seinem Kinderstuhl losmachen konnte, so mußte für diesmal das angesehene Wirtshaus „Zu den Krüppeln“ der Ehre verlustig gehen, Herrn Lively zu seinen Gästen zu zählen. Bis er sich auf die Beine gebracht hatte, war Fagin verschwunden, und so zwängte sich Herr Lively wieder in den Kinderstuhl und nahm mit wichtiger Miene seine Pfeife wieder in die Hand.
Die „Drei Krüppel“ oder vielmehr die „Krüppel“ waren das Gasthaus, in dem wir Herrn Sikes und seinen Hund schon mal getroffen hatten. Es war einer gewissen Sorte von Gästen wohlbekannt. Fagin gab dem Mann am Schenktisch nur ein Zeichen und ging dann geradezu die Treppe hinauf. Oben öffnete er die Tür eines Zimmers und trat leise ein. Er sah sich, die Augen mit der Hand beschattend, vorsichtig um.
Das Zimmer war durch zwei Gaslampen erhellt, deren Licht jedoch nicht durch die mit Läden gut geschlossenen Fenster nach außen drang. In dem von Tabaksrauch angefüllten Raum konnte Fagin kaum etwas erkennen. Nach und nach aber, als sich der Rauch durch den Luftzug der offenen Tür etwas verzogen hatte, tauchte eine Anzahl von Köpfen aus dem Qualm auf. Wenn sich das Auge mehr an den Schauplatz gewöhnt hatte, so konnte der Beobachter allmählich eine zahlreiche, aus Männern und Frauen bestehende Gesellschaft wahrnehmen, die sich um einen langen Tisch drängte. An dessen oberem Ende saß der Vorsitzende, in der Hand das Zeichen seiner Würde, einen Holzhammer haltend, während an einem verstimmten Piano in der entgegengesetzten Ecke ein Musiker sich niedergelassen hatte, der sich einer bläulichen Nase erfreute und eine von Zahnweh geschwollene Backe hatte.
Als der Jude leise ins Zimmer trat, hatte der Klavierspieler gerade durch einen präludierenden Lauf über alle Tasten die kunstbegeisterten Gäste zu einem Verlangen nach einem Liede veranlaßt, und sie gaben ihren Wunsch in ziemlich lärmender Weise zu erkennen. Als die Ruhe einigermaßen wiederhergestellt war, unternahm es eine junge Dame, die Gesellschaft mit einer aus vier Strophen bestehenden Ballade zu unterhalten. Der die Sängerin begleitende Künstler zappelte sich aus Leibeskräften ab, um seiner Musik den gehörigen Schwung zu geben. Als dieser Kunstgenuß zu Ende war, gab der Herr Vorsitzende mit dem Hammer ein Zeichen, und sofort begannen ein paar Herren zu seiner Rechten und Linken ein Duett, wofür sie großen Beifall ernteten.
Die Gesellschaft wies einige interessante Typen auf. Da war zuerst mal der Herr Vorsitzende in der Person des Wirtes selbst – ein schwerfälliger ungehobelter Kerl – der während des Gesanges seine Augen überall umherschweifen ließ und auf alles, was geschah und gesprochen wurde, sorgfältig achtete. Dann die Sänger neben ihm die mit Künstlergleichmut die Lobsprüche der Gesellschaft hinnahmen und sich nebenbei herabließen, ein Dutzend Gläser Grog zu leeren, die ihnen von ihren lärmendsten Bewunderern gespendet wurden. Man sah hier Verschmitztheit, Brutalität und Trunkenheit in allen Abstufungen. Den dunkelsten und traurigsten Teil dieses düsteren Gemäldes bildeten jedoch die Weiber – lauter Mädchen oder junge Frauen, die sich alle noch im Mai ihres Lebens befanden, und von denen einige die letzten Spuren einstiger Jugendfrische zeigten, während bei den meisten in ihrem wüsten Aussehen kein Zeichen edler Weiblichkeit mehr zu entdecken war.
Während der Gesangsdarbietungen sah sich Fagin die Gesellschaft scharf an, konnte aber augenscheinlich das Gesicht, welches er suchte, nicht finden. Schließlich gelang es ihm den Blick des vorsitzenden Wirtes auf sich zu ziehen und ihm einen Wink zu geben. Dann verließ er das Zimmer so unauffällig, wie er eingetreten war.
„Was wünschen Sie, Herr Fagin“, fragte der Wirt, der dem Juden auf den Treppenabsatz gefolgt war. „Wollen Sie nicht an unserem Tisch Platz nehmen? Wir würden es uns zur Ehre schätzen!“
Der Jude schüttelte ungeduldig den Kopf und fragte flüsternd: „Ist er da?“
„Nein“, antwortete der Wirt.
„Und keine, Nachricht von Barney?“ fragte Fagin.
„Keine, er wird sich auch nicht rühren, bis die Luft rein ist. – Verlassen Sie sich darauf, man ist ihnen auf der Spur, und sobald er sich zeigte, würde man ihn klappen. Barney wird sich in Sicherheit gebracht haben, sonst hätte ich schon etwas von ihm gehört. Darüber können Sie ganz ruhig sein.“
„Kommt er heute nacht nicht her?“ fragte der Jude, das „er“ stark betonend.
„Sie meinen Monks?“ entgegnete der Wirt zögernd.
„Pst, ja doch.“
„Sicherlich“, versetzte der Mann und zog eine goldene Uhr aus der Tasche. „Er müßte eigentlich schon hier sein. Wenn Sie zehn Minuten warten wollen, so – “
„Nein, nein“, sagte Fagin hastig, als käme ihm die Abwesenheit der betreffenden