Der Jude ging auf die Tür zu. Ehe er sie öffnete, sah er sich nach dem Jungen um und rief ihn mit Namen an.
Oliver sah auf; der Jude zeigte auf die Kerze und bedeutete ihm, sie anzuzünden. Der Junge gehorchte und bemerkte, als er den Leuchter auf den Tisch stellte, daß Fagin ihn mit düsteren Blicken betrachtete.
„Nimm dich in acht, Oliver, hüt’ dich!“ sagte der Alte und hob warnend die rechte Hand hoch. „Er ist ein roher Mensch und scheut kein Blutvergießen, wenn er in Wut ist. Was auch passiert, schweige und tue, was er dir, befiehlt. Denke daran!“ Er sagte die letzten Sätze mit starker Betonung, und sein finsterer Gesichtsausdruck wich einem gräßlichen Grinsen; dann nickte er mit dem Kopf und verließ das Zimmer.
Als Fagin verschwunden war, stützte Oliver seinen Kopf auf die Hand und dachte mit Herzklopfen den eben vernommenen Worten nach. Je mehr er über des Juden Warnung nachsann, desto weniger vermochte er sich den Sinn derselben zu erklären. Er konnte sich nicht denken, daß man Böses gegen ihn im Schilde führe, wenn man ihn zu Sikes schickte. Das hätte man ebenso bequem gehabt, wenn er bei Fagin bliebe. Nach langem Grübeln kam er zu dem Schlusse, daß er dazu bestimmt sei, Sikes so lange als Aufwärter zu dienen, bis ein anderer, besser geeigneter Junge ihn ablösen würde. Er blieb einige Minuten in Gedanken versunken und putzte dann seufzend das Licht. Darauf nahm er das Buch zur Hand, das ihm der Jude gegeben hatte, und fing zu lesen an.
Er blätterte anfangs rein mechanisch in dem Buche, doch wurde bald seine Aufmerksamkeit durch eine Stelle gefesselt, die ihn veranlaßte, eifriger im Lesen fortzufahren. Es waren Schilderungen des Lebens und der Taten großer Verbrecher. Die abgegriffenen, schmutzigen Seiten des Buches ließen darauf schließen, daß es viel studiert worden war. Er las von furchtbaren, das Blut erstarrenden Verbrechen, von geheimen Mordtaten, die an einsamen Wegen begangen wurden, von Leichen, die man in tiefen Abgründen und Brunnen vor den Augen der Menschen verbergen wollte, die aber nicht in ihren Gräbern bleiben konnten, so tief sie auch sein mochten. Die vielmehr nach Jahren wieder zum Vorschein kamen und durch ihren Anblick ihre Mörder so entsetzten, daß sie vor Grausen ihre Schuld bekannten und flehten, man möge sie hinrichten und so die Qual ihres Gewissens endigen. Die entsetzlichen Schilderungen waren so natürlich und lebendig, daß die schmutzigen Blätter sich vom Blute zu röten schienen.
In wahnsinniger Angst klappte der Junge das Buch zu und warf es in eine Ecke. Dann fiel er auf die Knie und betete zu Gott, er möge ihn vor solchen Taten bewahren und ihn lieber gleich sterben lassen, als ihn für solche entsetzliche Verbrechen aufbewahren. Dann wurde er allmählich ruhiger und betete mit leiser, gebrochener Stimme um Errettung aus den ihn umgebenden Gefahren.
Er war mit seinem Gebet zu Ende, aber noch hielt er das Gesicht mit den Händen bedeckt, als ihn ein Rascheln weckte.
Er fuhr auf, und als er an der Tür eine Gestalt erblickte, rief er:
„Was ist das? Wer ist da?“
„Ich – ich bin es nur!“ antwortete eine bebende Stimme.
Oliver hob das Licht in die Höhe und erkannte Nancy.
„Stell das Licht wieder hin“, sagte das Mädchen und wandte das Gesicht zur Seite; „es blendet meine Augen.“
Der Junge sah, daß sie sehr blaß war, mitleidig fragte er daher, ob sie krank wäre. Doch ohne zu antworten, warf sie sich auf einen Stuhl, so daß sie Oliver den Rücken kehrte, und rang die Hände.
„Gott verzeihe es mir“. rief sie endlich – „ich habe nie an alles dies gedacht.“
„Ist etwas vorgefallen?“ fragte Oliver. Kann ich Ihnen helfen? Wenn ich kann, will ich’s gerne tun.“
Sie wiegte sich hin und her, faßte sich an die Kehle und schnappte nach Luft.
„Nancy!“, schrie Oliver, „was ist Ihnen?“
Des Mädchens Arme und Beine zuckten wie im Krampf, sie hüllte sich fröstelnd in ihren Schal. Oliver fachte das Feuer im Kamin zu größerer Glut an, sie rückte ihren Stuhl an den Kamin und saß eine Weile stumm da. Endlich hob sie den Kopf und blickte umher. „Ich weiß nicht, wie mir zuweilen wird“, sagte Nancy und tat so, als ob sie mit dem Ordnen ihres Kleides beschäftigt sei. „Ich glaube, die dumpfe Luft in dieser Stube ist schuld daran. Nun, Nolly, bist du bereit?“
„Soll ich mit Ihnen gehen?“
„Ja, ich komme. von Bill“, antwortete Nancy.
„Ich will dich zu ihm bringen.“
„Wozu?“ fragte der Junge zurückweichend.
„Wozu?“ wiederholte das Mädchen, indem sie die Augen emporhob, aber schnell wegsah, als sie Olivers Blick begegnete. „Oh, zu nichts Bösem,“
„Das glaube ich nicht“, sagte Oliver, der sie aufmerksam beobachtet hatte.
„Das kannst du halten, wie du willst“, erwiderte sie mit gezwungenem Lachen. „Also zu nichts Gutem!“
Oliver hatte erkannt, daß das Mädchen zuweilen bessere Regungen hatte und dachte einen Augenblick daran, ihr Mitleid anzuflehen. Dann fiel ihm jedoch ein, daß es kaum elf Uhr sei und mithin wohl noch Leute auf den Straßen sein würden. Von diesen würde der eine oder der andere sicher seiner Erzählung Glauben schenken und ihm helfen. Als ihm dies durch den Kopf flog, ging er auf Nancy zu und sagte hastig, er sei bereit.
Dieser war nicht entgangen, was in seinem Innern vorging und sah ihn, während er sprach, scharf an.
„Pst“, sagte sie, als sie sich über ihn beugte und, vorsichtig um sich blickend, auf die Tür zeigte. „Du kannst dir nicht helfen. Ich habe alles Mögliche deinetwegen versucht, aber vergebens. Du bist von allen Seiten umstellt, und wenn du auch vielleicht einmal loskommst, jetzt ist noch nicht der richtige Augenblick dafür gekommen!“
Betroffen durch die Entschiedenheit in ihrem Benehmen, blickte ihr Oliver verwundert ins Gesicht. Sie schien es aufrichtig zu meinen, sie war blaß und aufgeregt und zitterte stark.
„Ich habe dich schon einmal vor Mißhandlungen geschützt und werde es auch künftig tun, – ich tue es sogar jetzt“, fuhr das Mädchen lauter fort, „denn wenn jemand anders dich geholt hätte, wäre man weit gröber mit dir umgegangen. Ich habe mich für dich verbürgt, daß du ruhig und artig sein würdest. Wenn du mir Schande machst, so wirst du mir und dir schaden, vielleicht an meinem Tode schuld sein. Sieh her! das alles habe ich schon für dich erduldet! So wahr, als Gott sieht, daß ich es dir zeige.“ Sie wies ihm einige blaue Flecken an Hals und Armen vor und fuhr dann hastig fort: „Vergiß das nicht und laß mich deinetwegen nicht noch mehr ausstehen. Wenn ich dir helfen könnte, würde ich es gern tun, aber es steht nicht in meiner Macht. Sie wollen dir kein Leid zufügen, und wozu man dich auch immer zwingen mag – dich trifft keine Schuld. Gib mir die Hand. Schnell, deine Hand!“
Sie ergriff Olivers Hand, die er ihr unwillkürlich reichte, blies das Licht aus und zog ihn die Treppe hinunter. Die Tür wurde von jemand, den man in der Dunkelheit nicht erkennen konnte, geöffnet und, sobald sie auf der Straße waren, ebenso schnell wieder geschlossen. Vor dem Hause hielt eine Droschke, sie zog ihn hinein und schloß die Fenster. Der Kutscher bedurfte keiner Weisung, sondern fuhr sofort in scharfem Trabe fort.
Nancy hielt Oliver noch immer fest an der Hand und flüsterte ihm weiterhin Warnungen und Versprechungen ins Ohr. Alles war so rasch vor sich gegangen, daß er sich kaum besinnen konnte, wo er wäre und wie er hierher käme. Da hielt auch schon die Droschke vor dem Hause, in dem Sikes wohnte.
Oliver warf einen schnellen Blick auf die leere Straße und ein Ruf um Hilfe schwebte ihm auf den Lippen. Nancys bittende Stimme, sie zu schonen, tönte ihm im Ohr. Er zögerte, und damit war die günstige Gelegenheit verpaßt; er befand sich plötzlich im Hause, das sofort verriegelt wurde.
„Wir sind da“, sagte das Mädchen, zum erstenmal seine Hand loslassend. – „Bill!“
„Hallo“, antwortete dieser, der mit einem Licht oben an der Treppe erschien. „Ihr kommt zur rechten Zeit! Nur herein!“
Das