„Stimmt das ist er“, sagte Fagin. „Er ist die letzten Wochen in einer guten Schule gewesen, und es wird Zeit, daß er anfängt, sich sein Brot selbst zu verdienen. Außerdem sind die anderen alle zu groß.“
„Ja, die richtige Figur hat er“, meinte Sikes.
„Und er wird auch alles tun, was ihr verlangt, Bill. Er kann nicht anders, vorausgesetzt daß Ihr ihn gut in Zucht haltet.“
„Daran soll es nicht fehlen, verlaß dich drauf“, entgegnete Sikes. „Macht der Bengel dumme Geschichten, wenn wir bei der Arbeit sind, siehst du ihn lebend nicht wieder, Fagin. Teufel auch! Überlege dir das wohl, ehe du ihn mir schickst.“ Er holte ein schweres Brecheisen unter der Bettstelle vor und schwang es drohend.
„Habe bereits alles überlegt“, sagte der Jude entschieden. „Habe ihn scharf beobachtet. Laßt ihn nur einmal klar werden, daß er einer der Unsrigen ist! Wenn sich der Gedanke in seinem Kopf festgesetzt hat, er sei ein Dieb gewesen, so ist er uns verfallen. Für sein ganzes Leben. Ha! Ha! Es hätte gar nicht besser kommen können.“
Er kreuzte seine Arme über der Brust und wand den Kopf und die Schultern, sozusagen, in einen Knäuel zusammen. Er umarmte sich buchstäblich selber vor Freude.
„Uns verfallen?“ sagte Sikes. „Dir, willst du wohl sagen.“
„Vielleicht stimmt’s, mein Lieber“, sagte Fagin schrill lachend. „Mein also, wenn es Euch so besser gefällt.“
„Und warum“, sprach Sikes grollend, „gibst du dir eigentlich soviel Mühe mit dem Gelbschnabel? Du hast doch die Auswahl unter fünfzig Jungen, die jede Nacht im Hyde Park pennen!“
„Die kann ich nicht gebrauchen“, versetzte Fagin etwas verwirrt. „Sie sind nichts wert, denn wenn sie in Schlamassel geraten, so steht ihnen gleich auf dem Gesicht geschrieben, was sie ausgefressen haben, und sie gehen kapores. Mit Oliver, richtig dressiert, kann man mehr erreichen als mit zwanzig andern. Zudem“, fuhr er gefaßt er fort, „hat er uns jetzt in der Hand, wenn er wieder entwischen sollte. Er muß deshalb mit uns in dasselbe Boot. Es ist gleichgültig, wie er da reingekommen ist, aber bleiben muß er. Und ist dies nicht besser, als wenn wir den armen Jungen um die Ecke bringen müßten. Abgesehen davon, daß das gefährlich wäre, würden wir auch dabei verlieren.“
„Wann soll es geschehen?“ fragte Nancy. Sie schnitt dadurch einen heftigen Gefühlsausbruch des Herrn Sikes ab, der die geheuchelte Menschenfreundlichkeit Fagins nicht gut anhören konnte.
„Ja, Bill“, fragte ebenfalls der Jude, „wann soll es sein?“
„Ich habe mich mit Toby auf übermorgen nacht verabredet“, versetzte Sikes mürrisch, „wenn ich ihm nicht noch vorher absage.“
„Schön“, sagte Fagin, „es ist doch kein Mondschein?“
„Nein!“
„Habt Ihr auch alle nötigen Vorkehrungen zur Fortschaffung der Beute getroffen?“ fragte der Jude.
Sikes nickte.
„Und wegen – “
„Ach, es ist alles in Ordnung“, fiel ihm Sikes ins Wört, „kümmere dich nicht um die Einzelheiten. Bringe den Jungen morgen abend her, eine Stunde nach Tagesanbruch geht’s los. Du hast weiter nichts als das Maul und den Schmelztiegel bereit zu halten. Mehr verlangen wir nicht.“
Nach einigen Hin- und Herreden aller drei wurde beschlossen, daß Nancy am nächsten Abend Oliver von Fagin abholen solle. Dieser meinte nämlich, er würde dem Mädchen lieber als irgendeinem anderen folgen, weil sie neulich so energisch für ihn eingetreten war. Man war sich ferner darüber einig, daß der arme Oliver zum Zwecke der beabsichtigten Unternehmung Herrn William Sikes ohne Vorbehalt übergeben werden solle. Dieser könne nach Gutdünken mit dem Jungen verfahren und wäre nicht verantwortlich für irgendeinen möglichen Unfall oder eine notwendige Züchtigung.
Nach Abschluß dieser Verhandlungen fing Sikes an, ein Glas Brandy nach dem anderen hinunterzustürzen und fuchtelte dabei mit dem Brecheisen in beunruhigender Weise herum. Darauf begann er gemeine Lieder zu singen, die er dann und wann mit wilden Flüchen unterbrach. Endlich bestand er in einem Anfall von Zunftstolz darauf, seine Einbrecherwerkzeuge vorzuführen. Er hatte jedoch kaum den Kasten mit ihnen gebracht und aufgemacht, um die Eigentümlichkeiten der verschiedenen Instrumente auseinanderzusetzen und auf die besondere Schönheit ihrer Konstruktion hinzuweisen, als er zu Boden stürzte und auf der Stelle einschlief.
„Gute Nacht, Nancy“, sagte Fagin und vermummte sich wieder.
„Gute Nacht.“
Ihre Blickt trafen sich, und der Jude faßte sie scharf ins Auge. Doch er fand keinen Anlaß zum Argwohn, denn sie benahm sich ruhig und gelassen. Indem er dem wie tot daliegenden Herrn Sikes noch einen leichten Tritt gab, ging er hinaus und die Treppe hinunter.
„So ist es immer“, brummte der Jude auf dem Nachhauseweg vor sich hin. „Es ist das schlimmste bei diesen Weibern, daß die unbedeutendste Kleinigkeit in ihnen irgendein längst vergessenes Gefühl wieder weckt – gut ist nur, daß es nie lange währt. Ha! Ha! Der Kerl gegen den Jungen! Ich halte einen Beutel Gold auf den Kerl!“
Mit diesen angenehmen Gedanken beschäftigt, verfolgte Fagin seinen Weg durch Dreck und Nässe, bis er seine Höhle wieder erreichte. Der Gannef war noch wach und erwartete ungeduldig seine Rückkehr.
„Ist Oliver zu Bett? Ich muß ihn sprechen!“ waren des Juden erste Worte, als sie die Treppe hinaufstiegen. „Schon lange“, antwortete der Gannef und öffnete eine Tür. „Hier ist er.“
Der Junge schlief fest auf einer harten Matratze auf dem Fußboden. Angst, Kummer und die lange Gefangenschaft hatten ihm die Blässe des Todes aufgedrückt – des Todes, nicht wie er im Sarge erscheint, sondern wie man ihn wahrnimmt. Wenn das Leben aus dem Körper entflohen ist, und die Seele gen Himmel fliegt, ohne daß die schwere Luft der Erde schon Zeit hatte, den Staub umzuwandeln, den sie heiligte.
„Jetzt nicht“, murmelte der Jude und wandte sich still weg. „Morgen, morgen.“
Zwanzigstes Kapitel
In dem Oliver Herrn William Sikes übergeben wird
Als Oliver am Morgen erwachte, war er nicht wenig überrascht, statt seiner alten ein Paar neue Schuhe mit starken, dicken Sohlen neben seinem Lager zu finden. Anfangs freute er sich über diese Entdeckung, denn er hoffte, sie wäre die Vorläuferin seiner Erlösung. Er gab diesen Gedanken aber bald auf, als ihm der Jude beim Frühstück mitteilte, daß er am Abend nach Bill Sikes Wohnung gebracht werden solle.
„Muß – muß ich – dort bleiben?“ fragte Oliver ängstlich.
„Nein, Liebling, du sollst nicht dort bleiben“, versetzte Fagin. „Wir möchten dich nicht gern verlieren. Sei unbesorgt, Oliver, du kommst wieder zu uns zurück. Ha! Ha! Ha! So grausam werden wir nicht sein, dich wegzuschicken. O, nein!“
Der alte Mann, der sich über das Kaminfeuer gebückt hatte und eine Brotschnitte röstete, blickte sich bei diesen ironischen Worten um und kicherte, um zu zeigen, er wisse recht wohl, wie gern Oliver weglaufen würde.
„Ich glaube, du möchtest gern wissen“, fuhr Fagin fort, ihn dabei scharf anblickend, „was du bei Bill sollst, nicht wahr?“
Oliver errötete unwillkürlich bei diesen Worten, denn er glaubte, der Alte habe seine Gedanken gelesen. Er erwiderte jedoch dreist:
„Ja, ich möchte es wohl wissen.“
„Nun, was denkst du wohl?“ fragte Fagin ausweichend.
„Weiß es wirklich nicht“, versetzte Oliver.
„Na. dann warte, bis es dir Bill sagen wird.“ Er wandte sich damit mißvergnügt ab, denn er ärgerte sich, daß der Junge keine größere Neugierde verriet. Nach