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Seine Mutter ist in der Wohnung. Er weiß es, noch ehe er ihre Stimme hört, die wie eine Maschinengewehrsalve durch die Räume dringt. Sein Mitbewohner wirft ihm einen hilfesuchenden Blick zu, doch Lior weiß, wenn seine Mutter einmal in Fahrt ist, ist sie nicht so schnell zu bremsen.
»Ich musste sie reinlassen«, flüstert Dror ihm zu, »sie hätte sonst den ganzen Tag lang draußen gestanden und die Nachbarn belästigt.« Dror kennt sich mit älteren Damen aus, schließlich ist seine eigene Großmutter Maryam bald neunzig Jahre alt und wirr wie ein Albatros, doch Liors Mutter ist ein besonderer Fall.
Lior kann sehen, dass sein Mitbewohner die Wohnung aufgeräumt hat. Der übliche Berg Wäsche ist von der Mitte des Zimmers in eine Ecke gewandert, und das schmutzige Geschirr ist aus der Spüle verschwunden. Lior fragt seine Mutter, ob sie etwas trinken möchte und natürlich möchte sie. Tee. Zwei Löffel Zucker. Als er den Küchenschrank öffnet, dämmert ihm, wohin das schmutzige Geschirr verschwunden ist.
»Ich musste improvisieren«, raunt Dror entschuldigend. »Sie stand schon vor der Tür, als ich sie gehört habe.«
Das ist das Problem mit seiner Mutter, sie kündigt ihre Besuche nie an, und dann steht sie plötzlich da, ehe man auch nur die Zeit gehabt hat, das Geschirr zu spülen oder sich eine gute Entschuldigung einfallen zu lassen.
Er schiebt einige klebrige Kaffeebecher und Schalen voll eingetrockneter Cornflakes zur Seite und tastet blind nach der Packung Beuteltee. Als das Teewasser aufgesetzt ist, macht sich Lior ein Bier auf, was seine Mutter dazu bringt, missbilligend mit der Zunge zu schnalzen.
»Soso, jetzt fängst du also auch schon an. Genau wie dein Vater früher.«
»Womit fange ich an?«
»Du trinkst! Mitten am Tag!«
»Es ist doch nur ein Bier, Mama.«
»Oh vey! Nur ein Bier. Das sagen sie alle. Ich weiß ganz genau, wohin das führen wird. Genau damit fängt es immer an. Nur ein Bier und danach noch eines, und ehe man sich’s versieht, fangt ihr an herumzuhopsen, singt Lieder und weckt die Kinder auf.«
»Hier gibt es überhaupt keine Kinder.«
»Und warum nicht, möchte ich wissen? Das hier ist auch kein geeigneter Ort für ein Kind. Viel zu klein. Und überall liegt Schmutz. Schmutz!«
Das letzte Wort sagt sie so laut, dass Lior die Augen schließt.
»Warum heiratest du nicht, Junge?«
Lior macht die Augen wieder auf und betrachtet die Kondenstropfen auf der Flasche so eingehend, als wären sie seine guten Freunde.
»Ich sage es dir, du jüdischste aller Mütter. Weißt du, es ist so: Ich gucke zu gerne den Mädchen auf den Hintern. Und wenn man erst einmal verheiratet ist, ist es damit aus und vorbei.«
Seine Mutter starrt ihn eine Weile aus zusammengekniffenen Augen an. »Du bist so ein seltsamer Junge«, sagt sie. »Ich wünschte nur, du würdest endlich hier sauber machen.«
Lior lehnt sich zurück und faltet die Hände über der Brust, obwohl er sich lieber die Faust in den Mund stecken würde, um nicht laut zu schreien. »Mutter«, sagt er, »das ist so, als würdest du Noah bitten, die Fensterläden seiner Arche zu schließen, weil es regnet.«
»Werden Sie nicht frech, junger Mann«, gibt seine Mutter zurück. »Ich mache mir Sorgen wegen deines Vaters. Falls es dich interessiert.«
»Was ist mit unserem alten Eremiten?«, will Lior wissen. »Vorhin machte er mir einen ganz munteren Eindruck. Wir haben über Mode geplaudert und ein wenig über die Unwägbarkeiten der Politik. Er wirkte durchaus optimistisch, was ich daran festmache, dass er mich nur einmal beschimpft hat.«
»Lass doch die dummen Witze, Lior. Du weißt doch, wie er ist. Aber ich bin tatsächlich in Sorge.«
»Das sagtest du schon. Und weswegen bist du in Sorge?«
»Engel.«
»Was?«
»Engel. Dein Vater glaubt neuerdings an Engel.«
»Ist der Glaube an Engel nicht Teil des ganzen religiösen Getues?«, fragt Lior. »Ich meine, er glaubt ja auch daran, dass Gott nicht will, dass wir uns am Sabbat die Hände schmutzig machen. Wusstest du beispielsweise, dass er sich am Freitagmorgen das Klopapier für den Sabbat bereitlegt, weil Papier abreißen als Arbeit gilt? Wusstest du das?«
»Nur weil dein Vater die Thoragesetze befolgt, heißt das nicht, dass er verrückt ist. Aber die Sache mit diesem Engel ist was anderes.«
»Wieso ist das was anderes?«
»Weil es nicht um Engel an sich geht«, sagt seine Mutter, »sondern um einen bestimmten Engel. Dein Vater denkt, der Messias wird kommen.«
»Was ist daran neu?«
»Er denkt, er wird bald kommen. Jetzt sofort.«
»Und was hat dieser Engel damit zu tun?«
»Dein Vater denkt, er ist der Vorbote. Hat er was gegessen?«
»Ob er was gegessen hat? Warum ist es wichtig, ob er was gegessen hat, wenn er doch dabei ist, den kümmerlichen Rest seines Verstandes zu verlieren?«
»Werd nicht frech. Du weißt doch, wie er ist. Er lebt eben in seiner eigenen Welt. Willst du wissen, was ich denke? Willst du’s wissen?«
»Du wirst es mir doch sowieso erzählen, was macht es da also für einen Unterschied, ob ich …«
»Ich glaube wirklich – und das meine ich ernst – dass dein Vater nach diesem Engel sucht. Er sucht ja ständig nach all diesen Zeichen. Er ist so schrecklich empfänglich für solche Dinge. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was mit ihm nicht stimmen könnte.«
»Was mit ihm nicht stimmt? Du liebe Güte, wo soll ich anfangen?«
»Du kennst deinen Vater so gut wie ich ihn kenne. Das solltest du jedenfalls, er ist immerhin dein Vater. Von mir nimmt er ja keinen Ratschlag an. Ich bin für jeden in dieser Familie nur eine Last.«
Liors Mutter nimmt einen Schluck Tee, wobei sie das Kunststück fertigbringt, zugleich vorwurfsvoll und resigniert auszusehen.
»Was also willst du, dass ich tue?«, fragt Lior.
»Alles, was ich will ist, dass du ein Auge auf ihn hast«, gibt seine Mutter zurück und streicht sich würdevoll eine Haarsträhne aus der Stirn. »Falls du dafür Zeit erübrigen kannst.« Sie klopft mit einem langen, rot lackierten Fingernagel gegen Liors Bierflasche und zieht die Augenbrauen hoch. »Bei all dem Stress den du hast.«
»Ein Auge, zwei Augen – ich werfe so viele Augen auf ihn, wie du willst«, seufzt Lior.
»Engel«, schnaubt seine Mutter, als sie sich anschickt zu gehen. »Ausgerechnet Engel.«
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»Mein Bruder lebt noch, aber vor dem Ramadan bringen sie ihn um«, versichert Omar dem Polizisten, der ihn verständnislos anstarrt.
»Woher hast du denn diesen Scheiß?«
»Von Yvonne, und die hat es aus den Teeblättern.«
»Und wer zur Hölle ist Yvonne?«
»Na, Yvonne eben. Sie kommt aus Jaffa. Sie ist gut. Wenn Sie wollen, bringe ich Sie mal hin, die liest Ihnen die Zukunft, da schlackern Ihnen nur so die Ohren!«
Der Polizist, dem nichts ferner liegt, als eine arabische Möchtegern-Hexe aufzusuchen, schnaubt unwillig und bringt dann sein Gesicht ganz nah an