Maroon hat sich schon das Aufnahmegerät über die Schulter gehängt und ist bereit. Gemeinsam laufen sie die Straße hinunter in Richtung See, dort wo die Boote am Hafen anlegen und wo es nach Fisch und gebratenen Maiskolben riecht.
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Die Menschen im Nahen Osten sind Hitze gewohnt, die einem die Schuhe versengt und wie heißer Atem ins Gesicht weht. Aber diesmal war es anders.
Es war das richtige Wetter für Waldbrände, Sandstürme und Krieg, und alle wussten das. Als die Temperatur bei vierzig Grad angelangt war, verschmolzen die Stunden, bis man nicht mehr sagen konnte, welche Tageszeit es war oder welcher Tag. Wer morgens aus dem Haus ging, musste feststellen, dass der Asphalt unter den Füßen schmolz, und wer sich mittags ins Freie wagte, dem konnte binnen Sekunden schwarz vor Augen werden.
Es war eine Zeit, in der so ziemlich alles schiefging, was schiefgehen konnte. Liebende stritten sich in überhitzten Schlafzimmern, wildfremde Menschen beschimpften sich auf Parkplätzen, Messer wurden gezückt und Steine wurden geworfen. Freundschaften, von denen man dachte, sie würden die Zeit überdauern, wurden mit einem einzigen unbedachten Wort zerstört. Die wenigen Leute, die schlafen konnten, wurden von schlimmen Albträumen geplagt, und alle anderen tranken eisgekühlten Kaffee und starrten trübsinnig in den gleißenden Himmel.
Bei einem solchen Wetter waren Halluzinationen wirklich nichts Ungewöhnliches. Lior Orly, der noch nie in seinem Leben Visionen gehabt hatte, nicht einmal in den wilden Jahren seiner Jugend, als Drogen zum Alltag gehörten, fing an, Dinge auf den Straßen von Tel Aviv zu sehen. Ein Paar rote Damenschuhe mitten in der Bograshov Street, eine Rolle Stacheldraht auf dem Rothschild Boulevard, und einmal erblickte er sich selbst einige Hundert Meter entfernt auf dem Highway, ein gespenstisches Aufleuchten seiner eigenen Gestalt. Er erschrak zu Tode und wäre beinahe in einen entgegenkommenden Laster gerast, wäre dessen Fahrer nicht so geistesgegenwärtig gewesen auszuweichen. Danach musste Lior am Straßenrand halten und in eine Papiertüte atmen, damit er nicht hyperventilierte. Es war nicht nur die Hitze, die allen so zusetzte, es war auch dieser seltsame schwefelige Geruch in der Luft, der durch die Straßen zog und das Atmen schwer machte.
Lior ist kein Träumer, das ist er nie gewesen. Er ist auch kein Mensch, der unbedachte Äußerungen fallen lässt und gewiss ist er niemand, der abergläubisch ist. Im Grunde genommen ist er nicht mal sicher, ob er überhaupt gläubig ist und vermutlich ist genau das das Problem, denkt er, als er sein Auto abschließt und in Richtung Hafen geht. Es ist so furchtbar heiß, dass ihm der Schweiß aus allen Poren rinnt, obwohl er nichts weiter trägt als Shorts und ein ausgeblichenes T-Shirt mit einem Aufdruck von den Ramones.
Lior hat den Sommer nie gemocht, und wenn es etwas wie eine Sommerdepression gibt, dann hat er das. Außerdem hasst er Tiberias, er hasst die ganze nach Fisch stinkende Stadt mit ihren uralten Gräbern und mitsamt ihren Bewohnern. Als er am Hafen ankommt, erblickt er nacheinander einen schwarzen Hund, der ihn anstarrt, ein kleines Mädchen, das mit Mantel und Fäustlingen an der Straßenecke steht (das kann mit Sicherheit nicht real sein, so viel ist ihm klar) und einen kleinen blauen Vogel, der vor ihm in der Luft schwebt. Lior versucht nicht, das Ding anzufassen, er wendet den Kopf ab und hofft, dass wenigstens der Hund echt ist. Er ist es. Sein Bellen folgt Lior, als er die abgetretenen Stufen zur Wohnung seines Vaters hinaufsteigt, der in einem recht heruntergekommenen Haus mit Blick auf den See wohnt.
Als er die Wohnung betritt, steht sein Vater Mordechai am Fenster und starrt missmutig nach draußen. Sein Bart ist längst ergraut, und in sein Gesicht haben sich tiefe Linien eingegraben, obwohl seine Schläfen noch immer schwarz sind. Seltsam, denkt Lior, bei ihm selbst ist es genau umgekehrt. Mit dreißig bekommt Lior büschelweise graue Haare, die so wenig zu bändigen sind, dass sie nach allen Seiten hin abstehen, doch sein Gesicht ist faltenlos und sieht aus wie das seiner Studenten. Sein bester Freund Dror hat ihm gesagt, dass die Frauen auf so einen Look stehen, doch Lior fühlt sich einfach nur alt damit.
Die Sache mit den Haaren ist nicht das Einzige, was Lior von seinem Vater unterscheidet. Der alte Herr verlässt selten sein Zimmer, und wenn, dann nur, um in die Synagoge zu gehen. Manchmal besucht er auch den Markt, um Äpfel und Datteln zu kaufen, doch größere Menschenansammlungen meidet er. Lior hingegen verbringt so wenig Zeit in seiner Wohnung in Tel Aviv, die er sich mit Dror teilt, dass er sich mitunter fragt, ob sich die exorbitante Miete überhaupt lohnt, und zum Essen besucht er meist den Imbiss an der Ecke, wo es frische Falafel und Zwiebelringe gibt, die in heißem Fett ausgebacken werden.
Während Mordechai sich bereit macht, um zu beten, geht Lior in die Küche, die spartanisch eingerichtet ist, genau wie der Rest der Wohnung. Auf dem Herd steht ein Topf mit kalter Suppe, auf der weißliche Fettaugen schwimmen, und an der Wand hängt ein noch tropfendes Nudelsieb an einem Haken. Zweimal im Monat besucht Lior seinen Vater, um ihm Essen zu bringen und ihm Gesellschaft zu leisten, und jeden Monat ist Mordechai abweisender und mürrischer als den davor. Seit sich seine Eltern vor siebzehn Jahren getrennt haben, hat sich sein Vater voll und ganz dem Studium der Thora gewidmet und wurde in dem Maße wunderlicher und mürrischer, wie sein Bart länger wurde. »Dein Vater hasst die Menschen im Grunde nicht«, pflegt seine Mutter zu sagen, »er kann sie nur nicht leiden.« Daraufhin backt sie für gewöhnlich einen Strudel oder ein paar Honigkuchen, die sie sorgfältig in Papier einwickelt, damit sie saftig bleiben. Als Lior heute den Kuchen auspackt, um ihn auf den einzigen intakten Teller zu legen, bemerkt er, dass die Luft sich verändert hat. Noch immer ist es heiß und so trocken, dass ihm die Augen tränen, doch nun ist da ein zuckriger Duft, der selbst den Geruch von Staub und Einsamkeit verdrängt, der sich in der Wohnung festgesetzt hat. Lior hat den Kuchen im Verdacht, der mit Honig und Sirup gesüßt ist, doch als er das Fenster öffnet, wird der Duft intensiver, so als hätte jemand eine Handvoll Zimt in den Wind gestreut.
Als das Gemurmel aus dem Wohnzimmer verstummt ist, bringt Lior seinem Vater ein Tablett mit seinem Imbiss, doch Mordechai rührt das Essen nicht an. Stattdessen sitzt er angespannt auf seinem Sessel und knetet die Hände im Schoß.
»Keinen Hunger heute, Aba?«, fragt Lior, und dann erst scheint Mordechai ihn wirklich wahrzunehmen. Er fasst seinen Sohn ins Auge und bemerkt, wie gut er aussieht. Schlank und sehnig wie er selbst in dem Alter. Aber das spielt keine allzu große Rolle, denn die Zeiten sind schlecht, und das sagt er seinem Sohn auch.
»Die Zeiten sind schlecht, mein Sohn«, sagt er. »Aber das wird sich bald ändern, die Zeichen stehen günstig. Du musst endlich anfangen, dein Leben in den Griff zu bekommen. Lebe nach der Schrift. Besuche die Synagoge. Und hör endlich auf, diese albernen Klamotten zu tragen, du siehst vollkommen meschugge aus.«
Mürrisch wendet Mordechai den Blick ab und starrt aus dem Fenster in den blauen Himmel, als erwartete er, dort Scharen von Cherubim zu sehen. Als sein Sohn sich schließlich verabschiedet und die Wohnung verlässt, steht Mordechai noch immer an derselben Stelle, den Blick fest auf den Himmel gerichtet.
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Als Lior, erschöpft von diesem Besuch, nach draußen auf die Straße tritt, ist die Hitze fast mit Händen zu greifen. Augenblicklich bilden sich Schweißflecken unter seinen Achseln, und weiße Flecken tanzen vor seinen Augen. Im ersten Augenblick ist er von der Sonne derart geblendet, dass er die vielen Menschen nicht bemerkt, die sich auf der Hafenpromenade drängen. Ein Gewirr von Stimmen