Am Boden des Himmels. Joana Osman. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joana Osman
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783455006544
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Dabei hätte es so viele interessantere, aktuelle Themen gegeben. Da war zum Beispiel die hitzige Debatte über den Mangel an Frauenrechten in der arabischen Gesellschaft, die vor allem von denjenigen geführt wurde, die davon nichts verstanden. Laylas Idee war es gewesen, investigativ nachzuforschen, wie viele der selbsternannten Feministen regelmäßig das örtliche Bordell besuchten, doch ihr Vorschlag wurde abgelehnt, vermutlich um die Privatsphäre derjenigen zu schützen, die in jenem Etablissement Stammgäste waren.

      Als sie beim Radio anfing und ihre Eltern deswegen einen Anfall bekamen, wollte Layla unbedingt über Dinge berichten, die politisch relevant waren. Sie wollte Reportagen machen, die die Menschen aufrütteln, aber stattdessen geht sie nun in den Aufnahmeraum und spricht den Verkehrsfunk. Nach dem Wetter schaltet sie das Mikro aus und nimmt die Kopfhörer ab. Missmutig starrt sie durch die Scheibe in den Regieraum, wo Amir, ihr Boss, bereits ungeduldig wartet.

      Amir el-Din ist der Chef des Radiosenders Al-Qamar – viel weiter nach oben kann man als Palästinenser in Israel nicht kommen. Sein Name bedeutet Prinz, und entsprechend seiner Bedeutung verhält er sich auch. Obwohl sich die Mitarbeiter viele phantasievolle Namen für ihn ausgedacht hatten, die sie hinter seinem Rücken benutzten, nennen ihn die meisten Leute in seiner Gegenwart doch nur beim Vornamen. Als Palästinenser mit israelischer Staatsbürgerschaft machte er in seiner Jugend einen beispiellosen Schritt und trat aus purem Opportunismus in die israelische Armee ein. Dort trainierte er sich, neben einer gewissen militärischen Härte, auch einen gewaltigen Bizeps an. Außerdem besitzt er seit dieser Zeit die Fähigkeit, große Mengen Bier zu trinken – auch eine Eigenschaft, die ihn in den Augen von Laylas Familie unmöglich macht. Sein Bauch hat sich dadurch entsprechend vergrößert, sodass ihm häufig ein Hemdzipfel aus der Hose hängt, wenn er seinen Mitarbeitern Vorträge hält, was, neben Bier trinken, zu seinen Lieblingsbeschäftigungen zählt. Und so kollert er jeden Morgen schwerfällig den Flur hinunter, um jemanden zur Schnecke zu machen. Amir ist normalerweise ein gutgelaunter Mensch, der seine berufliche Karriere dadurch erlangt hat, dass er gut gelaunt jedem seiner Konkurrenten und Kollegen in den Rücken gefallen ist. Doch heute hat er einen unzufriedenen Ausdruck im Gesicht, der ihm ein leicht froschartiges Aussehen verleiht.

      Seufzend steht Layla auf. Sie weiß nur zu gut, dass es fast unmöglich ist, eine andere Festanstellung zu finden und dass sie schon alleine deswegen nicht kündigen wird, um sich vor ihrer Familie keine Blöße zu geben. Ein Teil des Problems besteht darin, dass ihr nie eine passende Erwiderung einfällt, wenn die Nachbarn fragen, wann sie endlich heiraten wird. Im nächsten Herbst wird sie achtundzwanzig, und so langsam gehen ihr die Argumente aus. Eine Karriere beim Radio, auch wenn sie nur mittelmäßige Reportagen über Schönheitswettbewerbe oder die derzeitige Wasserknappheit in Ramallah schreibt, ist immerhin etwas.

      Die Kollegen in der Redaktion mögen Layla. Sie wirkt ernst, sogar wenn sie lacht, hat lange dunkle Haare, einen großen Mund und keine Ahnung davon, dass sie schön ist. Als sie in den Regieraum kommt, grinst Maroon, der Techniker, sie aufmunternd an. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit wünscht ihr Boss ihr einen guten Morgen und erwähnt die Castingshow mit keinem Wort. Stattdessen klopft er mit seinem Kugelschreiber gegen seine Handfläche und fängt an, im Zimmer auf und ab zu gehen.

      »Fahr nach Galiläa, da hat es irgendein Wunder gegeben. Nimm Maroon mit, er soll die Aufnahmen machen.«

      »Was denn für ein Wunder?«

      »Was weiß denn ich, irgendein Wunder eben. Irgendjemand hat einen verdammten Engel gesehen oder so etwas. Jedenfalls brauche ich eine Reportage über ein Wunder, Reshet Aleph hat es auch schon gebracht.«

      Natürlich ist Israel das Land mit den meisten Wundergläubigen der Welt, jedenfalls gemessen an der Einwohnerzahl. Andauernd versucht sich irgendwo jemand als Prophet, es gibt selbsternannte Heiler, die die Gebrechen der Gläubigen mittels Handauflegen lindern, am Jordan tunken Priester Kranke wie Gesunde ins Wasser, und jedes Jahr wird in Jerusalem mindestens ein Verrückter aufgegriffen, der, nur mit einer Stoffwindel und einer selbstgebastelten Dornenkrone bekleidet, ein Holzkreuz durch die Gassen schleppt oder vor der Klagemauer verkündet, er sei der Messias. Das ist ganz normal, immerhin ist das hier das Heilige Land, und die Bevölkerung, egal ob jüdisch, christlich oder muslimisch, kommt nicht ohne ihre tägliche Dosis Wahnsinn aus. Schon immer hat dieses Land das Monopol für Irrationalität und Übersinnliches besessen, doch wenn Amir ausgerechnet jetzt eine Reportage über ein Wunder haben möchte, dann nur deswegen, weil das Thema gerade so in ist. Einige Jahre zuvor erlebte das Land die jüngsten Auswüchse der New-Age-Welle mit ihren Propheten, Engelsflüsterern, Ufo-Gläubigen und Geistheilern, und überall eröffneten obskure Reiki-Praxen und Esoterik-Buchhandlungen, in denen entrückt aussehende Menschen ihre Heilsbotschaften erläuterten – und all das in einem Land, in dem sich Leute wegen Glaubensfragen regelmäßig an die Gurgel gehen. Layla würde lieber zum Schönheitswettbewerb gehen, als in Galiläa nach einem Wunder zu suchen, aber sie ist klug genug den Mund zu halten, ihre Anweisungen entgegenzunehmen und sich darauf zu beschränken, innerlich mit den Augen zu rollen.

      »Hast du vielleicht irgendwelche Anhaltspunkte für mich? Einen Namen? Eine Adresse? Irgendwas?«

      »Nein. Fahr doch einfach nach Tiberias und frag nach dem Wunder. Was weiß ich; wenn du einen Kerl mit Flügeln siehst, mach ein Interview, oder denk dir irgendwas aus. Aber beeil dich, in der Freitagssendung bringen wir es groß als Feature.«

      Seit ihrem Uni-Abschluss vor vier Jahren hat Layla beim Radio gearbeitet. In all der Zeit hatte sie weniger als ein halbes Dutzend Verabredungen, da sie fast jeden Annäherungsversuch bereits im Keim erstickt. Inzwischen stellt Layla fest, dass sie oft müde und gereizt ist. In letzter Zeit ist sie so angespannt, dass sie stets ein dumpfes Pochen hinter der Stirn fühlt, und ihre Nackenmuskeln fühlen sich an wie Drahtseile. Wenn sie nachts schwitzend aus einem ihrer Albträume aufschreckt, weil ihr der Rücken wehtut, oder wenn sie sich einsam fühlt, dann ruft sie sich in Erinnerung, wie hart sie dafür gearbeitet hat, unabhängig zu sein. Sie verdient ihr eigenes Geld, sie sorgt dafür, dass ihre Familie das Haus abbezahlen kann, und auch wenn sie kaum etwas zurücklegen kann, so kommen sie doch über die Runden. In erster Linie deswegen hat sie studiert und den Job in der Redaktion angenommen. Sie ist vielleicht nicht wie alle anderen, aber was spielt das schon für eine Rolle? Wenigstens ist sie nicht verrückt. Zum Teufel, dann geht sie eben nach Galiläa und sucht nach einem verdammten Wunder. Immerhin ist das besser, als zu Hause zu sitzen und darauf zu warten, dass eines geschieht.

      ***

      Maroon fährt mit heruntergelassenen Scheiben und hat Iron Maiden auf volle Lautstärke gedreht. Er bezeichnet sich selbst als arabischen Anarchisten und träumt davon, mit seiner eigenen Band auf Tour zu gehen, aber hab erst mal die Kohle dafür, erklärt er Layla, die nicht zuhört. Seine Band nennt sich »The Living Dead«, und genauso fühlt sich Layla im Moment. Möglicherweise liegt es an dem Sound, der ihr in den Ohren schmerzt oder an der selbstgedrehten Zigarette von Maroon, deren Geruch sie verrückt macht. Sie hat schlecht geschlafen und dunkle Ringe unter den Augen, und das weiß sie auch. Sie hat wieder vom Schnee geträumt und von Krähen, die von Mauern auffliegen, hoch hinauf in den kalten weißen Himmel. Im Traum lief sie vorbei an langen Reihen maroder Backsteinhäuser, auf deren Dächern Schnee lag. Ihre nackten Füße tappten durch den Schnee, blau gefroren und taub vor Kälte. Sie war allein auf der Straße, gesäumt von schwarzen Baumgerippen, Stacheldraht und alten, abweisenden Gebäuden. Da hörte sie einen Schuss und dann noch einen und dann nichts mehr. Doch hinter einer Hausecke, vor einer schwarzen Wand färbte sich der weiße Schnee hellrot.

      Noch immer spürt Layla Kälteschauer über ihre Haut rieseln, obwohl es draußen sicher mehr als dreißig Grad sind. Sie hasst diese Träume, aus denen sie mit klopfendem Herzen und zusammengebissenen Zähnen aufwacht. Sie hasst den Sog, in den sie gezogen wird, unfähig aufzuwachen, unfähig sich zu bewegen. Wenn sie in solchen Nächten einschläft, dann hört sie ein Rauschen in den Ohren, laut und monoton, und sie kann sich nicht daraus befreien. In diesem Zustand zwischen Wachen und Schlafen kann sie sich nicht rühren, nicht mal den kleinen Finger. Sie kann nur daliegen, bewegungslos auf dem Rücken, und ist diesem Rauschen ausgeliefert, das sich anhört wie tausend fallende Steine. Und dann fällt auch sie, tiefer und tiefer, mit bewegungslosen Gliedern, fällt mitten hinein in den Albtraum aus Schnee und Blut.

      Die