Am Boden des Himmels. Joana Osman. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Joana Osman
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Современная зарубежная литература
Год издания: 0
isbn: 9783455006544
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beschließt er, sich einfach treiben zu lassen. Am Ende der Straße, da wo die Mauern grün vor Algen sind und alte Boote in den Wellen dümpeln, hat sich eine Menschenmenge gebildet.

      »Was ist denn hier los?«, fragt Lior einen alten Mann in einem gestreiften Hemd, der am Straßenrand steht.

      »Eine Schlägerei!«

      »Eine Schlägerei?«

      »Ja, das sagte ich doch. Hören Sie nicht zu, Mann?« Unwirsch wendet der Mann sich ab und reckt den Hals, um besser sehen zu können.

      »Nein, ein Wunder ist passiert!«, mischt sich eine dicke Frau in einem blauen Kleid ein.

      »Was denn für ein Wunder? Ist der Likud zurückgetreten oder was?«, der Mann tippt sich an die Stirn.

      »Sehr witzig, Sie Komiker«, antwortet die Frau ungehalten. »Ein Engel ist gesehen worden. Schon mehrmals!«

      Lior fragt sich langsam, ob Wahnsinn womöglich ansteckend ist. »Für mich persönlich ist es ja schon ein Wunder, dass ich es heute Morgen überhaupt aus dem Bett geschafft habe, aber das meinen Sie wohl nicht, oder? Vielleicht war’s ja ein Scherz oder ein Werbegag, dieser Engel«, schlägt er hilfreich vor.

      »Das hätte man doch gemerkt, Sie Trottel, denken Sie nicht, dass man das gemerkt hätte? Schauen Sie sich doch nur um! Hören Sie doch!«

      »Ich höre nichts.«

      »Eben!«

      Da erst bemerkt es Lior. Anders als bei einer solchen Menschenmenge zu erwarten, herrscht eine nahezu andächtige Stille. Die Wellen schlagen leise an die Kaimauer und von ferne ist Verkehrslärm zu hören, doch ansonsten ist die Straße so ruhig, wie es nur Orte sein können, an denen es kurz zuvor hoch hergegangen ist. Ein paar Touristen filmen die Szene und wirken dabei mehr gelangweilt denn interessiert. Lior bemerkt einige Soldaten, die leise und vorsichtig patrouillieren. Auf ihren Gesichtern liegt eine Anspannung, als ob sie erwarteten, jeden Augenblick von einem Stein im Genick getroffen zu werden, doch in den Gesichtern vieler Umstehender spiegelt sich Entrücktheit wider. In ihren Augen liegt eine Sanftheit, die Lior noch nie zuvor an Menschen gesehen hat. Sie sehen aus, als hätte man ihre Seelen besänftigt.

      ***

      Als Layla und Maroon am Hafen ankommen, ist die Menge gerade dabei, sich zu zerstreuen. Im Schatten der Häuser stehen Gruppen von Leuten, die sich leise unterhalten.

      »Und wo ist jetzt dein Engel?«, fragt Maroon, während er umständlich an seinem Aufnahmegerät herumfummelt.

      »Ich weiß es doch auch nicht«, sagt Layla und klingt dabei ungehaltener als beabsichtigt. Sie ist erschöpft, obwohl es gerade erst Mittag ist.

      In der Luft hängt eine angespannte Ruhe, die die Aufregung der vorigen Stunden nur mühsam überdeckt. Layla erblickt einen Trupp Soldaten, die mit Gewehren im Anschlag die Straße beobachten.

      »Hier ist etwas sehr Merkwürdiges passiert«, stellt sie fest.

      Maroon und Layla sehen sich um. Vor ihnen geht ein kleiner Junge über die Straße – vorsichtig, als fürchtete er, mit seinen Schritten Lärm zu verursachen.

      »He, du da!« Maroons Stimme durchbricht die Stille. Der Junge dreht sich um und geht treuherzig auf die beiden Journalisten zu. Bei näherem Hinsehen entpuppt er sich als ein mageres Kerlchen von etwa zehn Jahren mit einem lebensklugen Blick und großen schwarzen Augen wie ein Kalb. Die Hitze hatte beträchtlich zugenommen, doch dem Jungen schien sie nichts auszumachen.

      »Möchten Sie ein Interview?«, fragt er auf Hebräisch und entblößt grinsend eine Zahnlücke. »Ich kann Ihnen eins geben, wenn Sie wollen, kostet auch nix. Aber ich will namentlich erwähnt werden, ich heiße Omar. Sind Sie von der Zeitung?«

      »Vom Radio«, antwortet Layla auf Arabisch, während Maroon mit den Augen rollt.

      Omar, dem der Sprachwechsel keinerlei Probleme zu bereiten scheint, nickt gut gelaunt und deutet auf den Pier. »Sehen Sie die Soldaten da? Die sind hier, weil es gerade fast eine Messerstecherei gab.«

      »Eine Messerstecherei?«

      »Ja, das sagte ich doch gerade.«

      Layla, die beschlossen hat, dass ein Interview mit einem kaugummikauenden Knirps ihrem Boss gerade recht geschieht, bedeutet Maroon, das Aufnahmegerät einzuschalten.

      Kaum hat Omar das Mikrophon unter der Nase, platzt die Geschichte wie ein Wasserfall aus ihm heraus. »Also alles fing damit an, dass Ahmed von der Tankstelle, er kommt übrigens aus Afula, aber seine Eltern leben nicht mehr, also Ahmed geriet mit einem Soldaten in Streit, weil er ihn einen dreckigen Besatzer genannt hat, aber das darf man Ahmed nicht übel nehmen, der ist manchmal so. Und dann wurde der Soldat wütend und stieg aus dem Wagen, mit gezücktem Gewehr müssen Sie wissen, und auf einmal waren da richtig viele Leute und schwupp, da flog schon ein Stein und dann ging es erst richtig los. Das mit dem Stein, das war einer von Ahmeds Brüdern oder Cousins oder so. Jedenfalls zogen die von der IDF ihre Knarren, ich dachte, jetzt knallt’s gleich. Und dann war da plötzlich so ein Kerl, der hatte ein Messer und rannte damit auf den Soldaten zu, so richtig wütend, aber wissen Sie was? Wissen Sie was dann passierte?«

      »Nein, was denn?«

      »Nix. Auf einmal wurde alles ganz still. Haben Sie mal eine Muschel an Ihr Ohr gehalten? So eine aus dem Meer?«

      »Ja, erzähl weiter.«

      »Also ich war erst einmal unten am Meer, aber so hörte sich das an, wenn man nix mehr hört, außer den Wellen. Na und der Mann mit dem Messer, der wurde plötzlich ganz ruhig. Wissen Sie, er guckte den Soldaten ganz seltsam an und warf dann das Messer weg. Und das Komischste war der Soldat, ich meine diese Typen sind ja immer irgendwie komisch, aber der war noch ganz jung und so, und auf einmal fängt der fast an zu flennen und macht so zwei Schritte auf den anderen zu. Und dann haben sie sich umarmt.«

      »Sie haben sich umarmt

      »Jawohl, Sayeda. Das haben sie getan und dann saßen sie auf der Straße wie zwei Schwule und klammerten sich aneinander fest. Nee, das stimmt nicht, da war nichts Verliebtes dran. Das war richtig – wie sagt man – heilig, wissen Sie?«

      »Heilig?«

      »Ja, wie ein Wunder. Haben Sie schon mal einen Soldaten einen Palästinenser umarmen sehen? Ich nicht. Also vorhin, das war das erste Mal, dass ich so was sah. Fast hätte ich auch geheult, aber ich bin nicht schwul.« Omar steckt sich geschäftig den Saum seines abgetragenen T-Shirts in die Hose.

      »War das das Wunder, von dem alle reden?«

      »Glaub schon.«

      »Aber wurde nicht angeblich ein Engel gesichtet?«

      »Ein Engel? Ja, klar. Schon mehrmals.«

      »Und wie sieht er aus?«

      »Weiß nicht, hab ihn nie gesehen.«

      Mit diesen Worten dreht sich Omar um und schickt sich an zu gehen. »Ich muss los«, ruft er über seine mageren Schultern zurück, »man sieht sich!«

      Nachdenklich blickt Layla ihm nach.

      »Das war das nutzloseste Interview, das wir je geführt haben«, stellt Maroon fest und steckt sich eine Zigarette an. »Der Bursche hat uns doch vollkommen verarscht.«

      »Irgendwas ist hier aber vorgefallen«, sagt Layla, noch immer gedankenverloren. »Etwas sehr Merkwürdiges.«

      ***

      Als Lior die beiden Journalisten sieht, die unschlüssig herumstehen, beschließt er, sich aus dem Staub zu machen. Ihm liegt nichts daran, sich interviewen zu lassen, außerdem möchte er endlich raus aus der Hitze. Aber da dreht sich die Frau um, und Lior kann nicht anders, er muss sie einfach anstarren. Es ist wie verhext, aber er glaubt, sie zu kennen. Etwas in seiner Wahrnehmung hat sich verändert, er hört die Stimmen der Menschen um ihn herum nicht mehr und fühlt nicht mehr die Hitze auf seiner Haut. Alles, was er wahrnimmt, ist sein eigener Herzschlag und das Rauschen seines Blutes in den Ohren.