„Allgemein wird angenommen, dass die sogenannten ‚Venus‘-Statuen die Erdmutter, die ,Terra oder Magna Mater‘ darstellen. Sie wurden sowohl im europäischen Osten wie in Italien, Spanien und Frankreich gefunden, und einige von ihnen stammen noch aus den Frühzeiten des sogenannten Jungpaläolithikums, der zweiten Stufe der Altsteinzeit, sind also 20 bis 30.000 Jahre alt. Diese plastischen Bildwerke haben im Gegensatz zu den Gravierungen in den Höhlen meistens Köpfe, die Gesichter sind aber nicht ausgeführt, auch hier ist stets der Leib das Wichtigste, der übermäßig groß und voll gestaltet ist. (…) Wie die Zeremonien um manche Höhlenbilder trächtiger Tiere doch wohl der magischen Förderung der Fruchtbarkeit des Jagdwildes dienen sollten, so mag auch im Glauben der Urmenschen die Erdmutter ihre Fruchtbarkeit auf die Frau, die zu ihr die Hände erhob, übertragen haben. (…) Das ist die Große Mutter der Eiszeit.“ So Britta Verhagen in ihrem Buch über die kulturellen Wurzeln des Abendlandes in der Bronzezeit.22
Es dürfte kein Zweifel darüber bestehen, dass die Erdmutter Gaia in der Ägäis und auf der griechischen Halbinsel auf ein hohes Alter zurückblickt. „Zuerst vor allen Göttern ehr ich im Gebet die Erde als die früheste Seherin“ – so beginnt Aischylos, der Schöpfer der griechischen Tragödie, sein Drama Die Eumeniden. Auch das Kultheiligtum von Delphi war ursprünglich der Erdgöttin Gaia geweiht – erst viel später wurde es dem Sonnengott Apollon zugesprochen. Gab es im klassischen Griechenland einen Gaia-Kult? Alle Zeichen weisen darauf hin. Im Kult wurde Gaia besonders in Attika verehrt; in der bildenden Kunst findet man sie meist mit Füllhorn und Früchten dargestellt. Am bekanntesten ist die bildliche Darstellung der Gaia auf dem Gigantenfries des Pergamonaltars. Wir finden hier eine Szene aus der „Gigantomachie“ dargestellt, also dem Kampf der Giganten mit den olympischen Göttern: Pallas Athene, von der Siegesgöttin Nike begleitet, ergreift den Giganten Alkyoneus; Gaia, rechts unten aus der Tiefe auftauchend, zieht ihn zu sich zurück.
Man vermutet, dass die griechisch-ägäische Gaia bis in die ersten sesshaften Ackerbaukulturen der Jungsteinzeit zurückgeht. Seit etwa 8000 v. Chr. hat sich der Ackerbau von Vorderasien über ganz Europa ausgebreitet, und es war die Bandkeramikerkultur, die – vom Balkanraum ihren Ausgang nehmend – die sesshafte Lebensweise und die mit ihr verbundene Kulturidee der Großen Muttergottheit nach Mitteleuropa brachte. Das Urgötterpaar von „Mutter Erde“ und „Vater Himmel“ und ihre Heilige Hochzeit schien im Mittelpunkt der europäischen Jungsteinzeit zu stehen, und dieses Denkbild verwendet noch um 700 v. Chr. der griechische Mythendichter Hesiod, wenn er aus der geheiligten Ehe zwischen der Erdgöttin Gaia und dem Himmelsgott Uranos die Titanen, Kyklopen und Erinnyen wie auch die olympischen Götter hervorgehen lässt.
Hesiod wird zuweilen als der „erste Dichter auf europäischem Boden“ bezeichnet, denn Heimat und Wirkungskreis des Homer lagen ja noch im ionischen Kleinasien. Hesiod entstammte jedoch der Kulturlandschaft Böotien, die in Griechenland selbst an der ägäischen Mittelmeerküste gelegen ist; um 700 v. Chr. soll er dort in Askra geboren worden sein. Am Helikon (im Altertum der Name für den Bergrücken östlich vom Parnass in Böotien) erlebte er – friedlich inmitten der unberührten Natur die Schafe hütend – seine Berufung durch die Musen und wurde daraufhin ein Rhapsode. Unter einem Rhapsoden versteht man einen Dichter-Sänger, der als ein fahrender Spielmann durch die Lande zieht und im festlichen Kreis homerische oder selbstverfasste Epik vorträgt.
Das Lebensmilieu des Hesiod war ganz offensichtlich das der Bauern und Schafhirten, und aus einer tiefen Naturverbundenheit konnte er die lebendig tätigen Wesenheiten der übersinnlichen Welt wahrnehmen und das geistig Geschaute in dichterische Worte fassen. Der Höhepunkt seiner Laufbahn war sein Sieg im Dichterwettstreit bei den Leichenspielen für König Amphidamas in Chalkis. Sein bedeutendstes Werk stellt eindeutig die Theogonie dar, ein großartiges Gesamtsystem griechischer Göttermythologie, das in ebenso düsteren wie grandiosen Bildern den Prozess des Weltwerdens darstellt, wie er vom Seherauge geschaut wurde.
Theogonie bedeutet ja eigentlich „Gottwerdung“, also das Entstehen und Vergehen der Göttergeschlechter, aber Theogonie ist im griechischen Denken immer zugleich Kosmogonie; Götterwerdung ist also auch Weltwerdung, denn die Weltentwicklung im Diesseits ist untrennbar verknüpft mit dem Wirken der Geistigen Hierarchien in der übersinnlichen Welt. Deshalb muss die hesiodische Theogonie zusammen mit der Genesis der Bibel und dem Völuspa-Lied der germanischen Edda zu den großen Weltschöpfungs- und Weltentstehungsmythen gerechnet werden, die aus dem dumpfen Ahnen der noch kindlich-hellsichtigen Menschheit der Frühzeit hervorgegangen sind.
Man sagt, dass Homer und Hesiod den Griechen ihre Götterwelt gegeben haben; aber Tatsache ist, dass beide auch an uralte vorgriechische Mythen anknüpfen, vor allem an die Gaia-Religion der Pelasger, jener unbekannten mediterranen Urbevölkerung Griechenlands, die von den um 1700 v. Chr. aus dem Norden eingewanderten Stämmen der Ionier, Dorer und Achäer auf der hellenischen Halbinsel und in der Ägäis vorgefunden wurde. Gaia ist vermutlich eine chthonische Fruchtbarkeitsgöttin der Pelasger. Gaia wird bei Homer mit Zeus und Helios zusammen im Eid als Zeugin angerufen; sie steht an Rang und Bedeutung Zeus und dem Sonnengott nicht nach.
Nach der Theogonie Hesiods war zuerst nur das „Chaos“ da: die Urgöttin Chaos als der Urstoff allen Lebens! Aus diesem Urstoff Chaos ging dann Gaia, die „breitbrüstige Erde“ hervor, die ihrerseits aus sich heraus den Himmelsgott Uranos gebar wie auch das Gebirge und das Meer, den Pontos und den okeanos. Von Uranos befruchtet, dem Sohn und Gatten zugleich, gebar die Ur- und Allmutter Gaia die Titanen, die Kyklopen und die Hekatoncheiren. Da Uranos seine Kinder hasste und er sie in den Schoß der Erde zurückstieß, erhob sich der jüngste der Titanen, Kronos, und entmannte ihn. Aus den Blutstropfen, die auf die Erde fielen, gebar Gaia die Erinnyen und die Giganten. Später half sie den von ihrem Vater Kronos unterdrückten Titanenkindern, vor allem dem Zeus, der ja dann das olympische Göttergeschlecht begründete. Am Anfang also war, wie gesagt, das Chaos. Und nachdem Hesiod als Rhapsode am Beginn seiner Dichtung die Musen als Schutzgeister angerufen hatte, fährt er fort:
Gaia, die Erde, erzeugte zuerst den sternigen Himmel, gleich sich selber, damit er sie dann völlig umhülle, unverrückbar für immer als Sitz der ewigen Götter, zeugte auch hohe Gebirge, der Göttinnen holde Behausung, Nymphen, die die Schluchten und Klüfte der Berge bewohnen; auch das verödete Meer, die brausende Brandung gebar sie ohne beglückende Liebe, den Pontos; aber dann später gebar sie Okeanos' wirbelnde Tiefe.23
Im Europa der Jungsteinzeit nahm die Verehrung der Erdenmutter als der Magna Mater sowie der Gedanke einer Heiligen Hochzeit oder Hieros Gamos zwischen Himmel und Erde eine herausragende Bedeutung ein. Auch Hesiod spricht von einer solchen Heiligen Hochzeit, wenn er den Mythos von Uranos und Gaia erzählt, zu deren Kindern unter anderem auch die Titanen gezählt werden:
Koios und Kreios dazu und Iapetos und Hyperion, Theia sodann und Rheia und Themis, Mnemosyne ferner, Phoibe, die goldbekränzte, und auch die liebliche Tethys; als der jüngste nach ihnen entstand der verschlagene Kronos, dieses schrecklichste Kind, er hasste den blühenden Vater.24
Es gibt im Verborgenen chthonische Kräfte und Wesenheiten, tellurische Energien in den Eingeweiden der Erde, und der Seherblick des Dichters erkennt in diesen Urkräften das Wirken der Titanen. In den Titanen sind also die Personifizierungen von Naturkräften und Erdenergien zu sehen, die in der Aura unseres Planeten tätig sind. Die Geist- und Götterkräfte der Titanen waren in allen Elementen wirksam, im Himmel, auf der Erde und im großen Weltmeer. Die Titanen sind nach hesiodischer Theogonie das zweite Göttergeschlecht innerhalb der Weltentwicklung, während das erste und älteste Göttergeschlecht von den Geschöpfen des Chaos und den Kindern der Nacht gebildet wurde. Aber noch andere Kinder sind der Ehe von Uranos und Gaia entsprossen – die Kyklopen, stirnäugige Riesen, und die Hekatoncheiren: hundertarmige Ungeheuer!
Auch die Kyklopen gebar sie, die wildüberhebenden Herzens, Brontes und Steropes auch und den finstergewaltigen Arges; diese dann gaben dem Zeus den Donner und schufen die Blitze.
Zwar in allem glichen sie