Nach den Göttern und Dämonen wären nun an dritter Stelle die Heroen zu nennen. Wer sind die Heroen? Und welche Rolle spielen sie in der griechischen Mythologie? Vereinfacht ausgedrückt: Heroen sind sterbliche Menschen, durchaus mit historischer Existenz, aber solche, die den „Glanz des Göttlichen“ an sich tragen – die später, am Ende ihrer Laufbahn, zu den Göttern entrückt wurden und in ihrem Kreise fortan weilten. Wie es Karl Kerenyi treffend sagt: „Der Glanz des Göttlichen, der auf den Heros fällt, ist eigentümlich vermischt mit dem Schatten der Sterblichkeit.“9 Heroen sind also, kurz gesagt, vergöttlichte Menschen – Halbgötter, kultisch verehrte Stammväter von Geschlechtern, Städtegründer und Kulturbringer. Sie wohnten auf den Inseln der Seligen oder auf dem Olymp und genossen hohes Ansehen. Heroen waren beispielsweise Kadmos, der Begründer von Theben, Herakles, Theseus, Achilles, die Argonauten und die Helden des Trojanischen Krieges.
Schöpfungsmythen
Damals war nicht das Nichtsein, noch das Sein
Kein Luftraum war, kein Himmel drüber her. –
Wer hielt die Hut der Welt? wer schloss sie ein?
Wo war der tiefe Abgrund, wo war das Meer?
Nicht Tod war damals, nicht Unsterblichkeit,
Nicht war die Nacht, der Tag nicht offenbar. –
Es hauchte windlos in Ursprünglichkeit
Das Eine, außer dem kein andres war.
Von Dunkel war die Welt bedeckt,
Ein Ozean ohne Licht, in Nacht verloren; -
Da ward, was in der Schale war versteckt,
Das Eine durch der Glutpein Kraft geboren.
Aus diesem ging hervor, zuerst entstanden,
Als der Erkenntnis Samenkeim, die Liebe; -
Des Daseins Wurzelung im Nichtsein fanden
Die Weisen, forschend in des Herzens Triebe.10
Kosmogonische Vorstellungen des Rigveda
In den Schöpfungsmythen geht es um den Ursprung der Welt und um das Werden der Götter, Menschen und anderen Naturwesen, die den Kosmos als Ganzen beseelen; dabei wird der Weg gezeichnet, der von einem formlosen Urzustand bis zu dem wohlgeordneten Kosmos der Jetztzeit führt. Bezeichnend für die Sichtweise des Rigveda ist die Suche nach einem einheitlichen Ursprung des Weltganzen. Und ansatzweise ergibt sich aus diesem Suchen die Vorstellung von dem sichselbstgebärenden Einen, die später in den Upanishaden eine so große Bedeutung gewinnen wird: „Das Eine, außer dem kein andres war“.
Das Weltschöpfungslied ist ohne Zweifel das denkerisch tiefste unter den kosmogonischen Liedern des Rigveda; der anonyme Dichter will keine eigentliche Schöpfungslehre aufstellen, sondern ihn interessiert nur das Problem, wie denn die reale Welt aus dem Nichts entstanden sei. Da aber aus dem Nichtsein niemals irgendetwas hervorgehen kann, meint der Dichter, dass es ursprünglich weder Sein noch Nichtsein gab, sondern einen Zustand jenseits von beidem. „Weder Nichtsein noch Sein war damals; nicht war der Luftraum noch war der Himmel darüber. Was strich hin und her? Wo? In wessen Obhut? Was war das unergründliche tiefe Wasser?“11 In diesem pralayaischen Zustand universaler Latenz webte das Eine, das die Welt aus sich selbst gebar – der universelle Weltenkeim aller Dinge. Liebesverlangen überkam das Eine, Werdelust packte es, und so entfaltete sich das All aus dem Einen; am Anfang stand also der kosmogonische Eros.
Ein immer wiederkehrendes Denkbild aus dem Rigveda ist die Vorstellung von einem Urmenschen. Mit anderen Worten, die Einheit der Welt wird daraus erklärt, dass sie aus einem einzigen Urindividuum entstanden sei. Dieses Urwesen ist Purusha („ein Mannsbild von riesenhaftem Ausmaß“ nennt ihn Geldner), und das Lied schildert seine Geburt und Weltwerdung, seine weltumspannende Größe, und dann sein Geopfertwerden durch die Götter – aus den Gliedern seines getöteten Leibes formen sie die verschiedenen Teile der Welt. Dieser Mythos vom kosmischen Menschen, vom All- und Urmenschen als Urgrund der Schöpfung, ist Gemeingut aller alten Völker, ein Bestandteil jener esoterischen Geheimlehre, die in Urzeiten über die ganze Welt verbreitet war. Dem vedischen Purusha entspricht der jüdische Adam Kadmon, der persische Gayomard, der altnordische Ymir, ja sogar noch ältere Vorbilder aus eurasischer Vorzeit (Pangu in der chinesischen Mythologie). Auch erhält der Opfergedanke im Purusha-Mythos größere Bedeutung: durch Opfer ist die Welt entstanden – durch Opfer wird sie aufrechterhalten.
Zunächst einmal ist, nach Aussage des Rigveda, der Purusha identisch mit dem Makrokosmos: „Purusha allein ist diese ganze Welt, die vergangene und die zukünftige, und er ist der Herr über die Unsterblichkeit“12. Sodann wird der Urmensch geopfert, in Teile zerlegt und aus diesen die Welt geformt, sodass sich eine vollständige Analogie zwischen Makrokosmos und Mikrokosmos ergibt; den Gliedern des Makromenschen entsprechen die Glieder der Welt: „Der Mond ist aus seinem Geist entstanden, die Sonne entstand aus seinem Auge; aus seinem Munde Indra und Agni, aus seinem Aushauch entstand der Wind. Aus dem Nabel ward der Luftraum, aus dem Haupte ging der Himmel hervor, aus den Füßen die Erde, aus dem Ohre die Weltgegenden. So regelten sie die Welten.“13 Unser ganzes Universum wäre somit der Leib eines Großen Menschen. Ein ganz ähnliches Gedankenbild finden wir in der germanischen Mythologie, der dieselben urindoeuropäischen Mysterien zugrunde liegen wie dem Rigveda. In der aus Island stammenden Sammlung Edda, nordische Götterlieder, begegnen wir dem Urriesen Ymir, der auch von den Göttern geopfert wurde, um die mikrokosmische Welt daraus zu formen:
Aus Ymirs Fleisch ward die Welt geschaffen,
aus dem Gebein das Gebirg,
der Himmel aus dem Schädel des schneekalten
Riesen, die Brandung aus dem Blut.14
Der Begriff purusha hat in der späteren indischen Religionsphilosophie noch eine andere Bedeutung angenommen. In der Sankhya-Philosophie bezeichnet er in Abgrenzung gegen prakriti, die Materie, das Selbst, das Absolute oder das reine Bewusstsein; im Vedanta ist Purusha dann identisch mit dem Atman und somit auch mit dem Brahman. Das Purusha-Lied bildet nach P. Deussen den krönenden Abschluss der Philosophie des Rigveda, es ist sicherlich auch eines der jüngsten Hymnen in der ganzen Sammlung, da es als einziges die vier Hauptkasten erwähnt, die es ebenfalls aus dem Purusha hervorgehen lässt15.
Ein anderes Schöpfungslied stellt die Frage nach dem ungenannten Urgott in den Vordergrund. Die erst viel später angefügte Schlussstrophe gab ihm den Namen Prajapati. Da der Urgott und erste Schöpfer aber nicht unter den bekannten Göttern zu finden ist, wird als Refrain die Frage aufgeworfen, welchem Gott denn nun diese Ehre zukomme („Wer ist der Gott, dem wir mit Opfer dienen sollen?“). Dieses Lied enthält auch eine Kosmogonie, da von dem unbekannten Schöpfergott gesagt wird: „Im Anfang wurde er zum goldenen Keim. Geboren ward er der alleinige Herr der Schöpfung. Er festigte die Erde und diesen Himmel“16. Der Goldkeim – hiranyagarbha – ist die Vorstufe des goldenen Eies der späteren Kosmogonien, der als Keim im Urwasser treibt und nach seiner Befruchtung durch den Strahl des Logos die Welt aus sich hervorbringt.
Der babylonische Schöpfungsmythos