Egoismus und Rücksichtslosigkeit
Wie bereits erwähnt, hat uns die Evolution die richtigen Mengen an Egoismus und Altruismus mitgegeben, die wir benötigten, um bis hierher zu kommen. In unserer heutigen Gesellschaftsstruktur kann sich der Egoismus viel stärker entfalten. Viele Menschen kümmern sich nur um ihr Eigentum und wenige auch um das Allgemeingut. Mietwagen, öffentliche Toiletten und Parkbänke werden ohne Hemmungen schlecht behandelt und dreckig hinterlassen, und unsere Sozialsysteme werden von vielen ausgenutzt – man nimmt halt, was man kriegen kann. Auch wenn wir mit steigendem Grad der Zivilisation mehr Selbstbeherrschung erlernen werden, so bleibt der Egoismus eine Grundeigenschaft des Menschen, die wir bei unseren Entscheidungen berücksichtigen müssen.
Es hat wenig Sinn, sich darüber zu ärgern oder zu wundern oder daran die Schlechtigkeit der Menschheit abzulesen oder mehr Disziplin zu fordern. Es käme auch niemand auf die Idee, Vögel als schlecht zu bezeichnen, weil sie beim Fressen von Körnern den größten Teil davon auf den Boden fallenlassen. Sie gehen mit den Ressourcen ebensowenig „schlecht“ um wie wir Menschen – sie tun, was ihnen die Natur mitgegeben hat, und das ist (im Ursprungszustand) ihrer Arterhaltung förderlich. Dazu gehört auch, dass ihr Lebensraum dadurch nicht bedrohlich geschädigt wird. Ein Biber, der so viele Bäume abnagt, dass aus seinem Wald eine Steppe wird, wird seine Art nicht erhalten können.
Unser negatives Urteil über derartiges menschliches Handeln hat verschiedene Gründe. Wir sind in der Lage, Verschwendung besser zu erkennen und zu verhindern als Tiere. Eine Amsel, die die Hälfte der Beeren, die sie fressen will, fallenlässt, kann dies nicht durch Erkenntnis und Beschluss unterlassen, weil ihr die Erkenntnisfähigkeit und das bewusste Handeln fehlen. Andererseits hat sie dadurch offenbar so wenig Nachteile in Bezug auf die Arterhaltung, dass sie ein leistungsfähigeres Gehirn, mit dem sie weniger Verschwendung erreichen könnte, mehr kosten als es ihr nutzen würde.
Wir nutzen unser „Revier“ stärker aus, so dass Verschwendung eine andere Bedeutung bekommt. Die Amsel hat wenig davon, wenn sie weniger Beeren fallen lässt, die dann ohnehin am Strauch verfaulen. In unserer Welt bedeutet die Verschwendung des Einen oft den Mangel des Anderen. Außerdem erzeugt eine Amsel keinen „Müll“, wenn sie angefressene Beeren fallenlässt. Erst wir haben mit Kunststoffen, Chemikalien und Giftstoffen Dinge erzeugt, die man nicht an jeder beliebigen Stelle fallenlassen kann, ohne die Umwelt zu beeinträchtigen. Und in Bezug auf Rohstoffe nutzen wir nicht nachwachsende Rohstoffe auf dieselbe Art wie nachwachsende, obwohl die Begrenztheit der ersten ein anderes Verhalten erfordert als das der Amsel.
Vielfalt, Mut und Angst
Wenn die Natur gewollt hätte, dass wir alle gleich seien, hätte sie uns so geschaffen. Dann wäre ein Mensch dem anderen so ähnlich wie für uns eine Ameise der anderen. Wenn es in einer steinzeitlichen Gruppe Menschen gibt, die sich mehr für die Jagd interessieren, andere eher ruhig sind und mehr beobachten und nachdenken, wieder andere neugierig sind und vieles sammeln, dann führt das zu einer Arbeitsteilung, bei der sich jede und jeder auf das konzentriert, was sie oder er besonders gut kann. Es wird Tätigkeiten geben, die unerlässlich sind und von jedem ausgeführt werden, und solche, die nur von wenigen beherrscht werden. Wir sind so, wie wir sind, weil dies optimal für die Arterhaltung war. Und dazu gehört, dass die Evolution uns hat unterschiedlich werden lassen, damit wir einander ergänzen können. So gesehen, hat die Natur die Arbeitsteilung erfunden, nicht der Mensch.
Gäbe es nur ausgeprägt mutige Menschen, so hätten sie sich auf den nächsten Bären gestürzt und wären tot. Wären alle Menschen ausgeprägt ängstlich, so wären sie nicht auf die Jagd gegangen und anschließend verhungert. In einem modernen Team braucht man Pessimisten und Optimisten, um zu einer guten Entscheidung zu kommen. Ein Optimist sieht zu wenig die Gefahren, ein Pessimist zu wenig die Chancen. Wären alle in gleichem Maße ausgeprägt neugierig, gierig, schnell, so hätte das einen steinzeitlichen Clan eher aussterben lassen.
Auch wenn man uns (was manche denken) in schöne, mutige Starke gegenüber den hässlichen, ängstlichen Schwachen einteilen könnte, gäbe es uns nicht mehr. Wären alle besonders Intelligenten auch gleichzeitig besonders mutig, wären vielleicht alle Intelligenten von einem Bären getötet worden. Daher ist es von Vorteil, wenn die Fähigkeiten eher zufällig und unregelmäßig verteilt sind. Wir stammen von den Vorfahren ab, die nicht ausgestorben sind, und das waren offensichtlich die, bei denen mehr Vielfalt herrschte.
Ebenso strebt die Evolution nicht grundsätzlich nach mehr von allem, sondern nach einem optimalen Maß. Jedes Mehr bedeutet auch mehr Energieaufwand, und dies ist in einer natürlichen Umgebung ein Nachteil bezüglich der Arterhaltung. Beim Menschen ist die körperliche Kraft ein solches Beispiel. Unsere Muskeln sind deutlich schwächer als die unserer nächsten Verwandten, der Menschenaffen. Unsere Vorfahren waren wesentlich stärker, sie hatten mehr Muskelkraft bei vergleichbar großen Muskeln, so wie es bei Affen heute noch der Fall ist. Es gibt auch heute noch einen kleinen Prozentsatz von Menschen, die körperlich wesentlich leistungsfähiger sind als der Durchschnitt – manche sogar bis ins hohe Alter. Trotzdem setzt sich diese Eigenschaft nicht genetisch durch. Es scheint aus Sicht der Evolution ausreichend, wenn einige wenige mehr Kraft besitzen. Die Regel vom Schulhof, dass sich der Stärkste durchsetzt, scheint nicht optimal für unsere Arterhaltung zu sein.
Jagd, Sport und Spiel
Alle Tiere und auch wir Menschen werden vom Instinkt zu bestimmten Verhaltensweisen gedrängt. Dazu gehören die Ernährung und das Vermeiden von Schmerzen, aber auch das Jagen und Sammeln.
Ein Beispiel der Autorin Jean Liedloff zeigt, wie stark diese Instinkte sein können: „Ein Kapuzineraffenweibchen, das ich von meiner ersten Expedition mitgebracht hatte, pflegte so viel von ihrer (geschälten und von mir servierten) Banane zu essen, wie sie zu ihrer Mahlzeit wollte. Dann, während sie sich deutlich den Anschein gab, nichts Besonderes zu tun, wickelte sie den Rest in eine Papierserviette, wobei sie umherblickte, als merke sie nicht, was ihre Hände taten. Anschließend umkreiste sie den Ort in der Haltung eines zufälligen Spaziergängers, entdeckte plötzlich das geheimnisvolle Päckchen und riss mit allen Zeichen steigender Erregung das Einwickelpapier von dem Schatz, den es beherbergte. Siehe da! Eine halbaufgegessene Banane! Potztausend! Aber dann erlahmte die Pantomime für gewöhnlich. Sie hatte gerade zu Mittag gegessen und brachte es nicht über sich, über diese Beute herzufallen. Sie wickelte die zerfledderte Banane wieder in die Papierfetzen und begann erneut mit ihrer Vorstellung. Sie überzeugte mich davon, dass ihr Trieb, ihr Bedürfnis, Nahrungsbehälter wie Obst- oder Nussschalen zu suchen und zu öffnen, völlig getrennt und unabhängig von ihrem Impuls nach Nahrungsaufnahme existierte. Ich hatte die Nahrungssuche und das Schälen in freundlicher Absicht aus der Abfolge herausgetrennt, die die Natur ihren entwicklungsgeschichtlichen Vorfahren seit je abverlangt hatte (und die ihre Erwartungshaltung erfüllt hätte). Ich hatte gemeint, ihr ‚Mühe zu ersparen’. Doch damals verstand ich das Kontinuum noch nicht. Sie folgte ihrem stärkeren Impuls zuerst und fraß die Nahrung. Indem der Impuls sich mit der Sättigung verringerte, kam der nächststarke zum Vorschein. Sie wollte jagen. […] Der wahre Gegenstand des Jagdverhaltens war die Befriedigung des Bedürfnisses nach der Jagderfahrung selbst“.65
Jeder, der Katzen im Haus hält, kennt dieses Verhalten: Sie wollen „jagen spielen“, um die Jagd zu trainieren und in Übung zu bleiben.66 Sie tun das, weil ihr Trieb sie dazu anhält, auch wenn sie davor gefüttert wurden – satt zu sein reicht ihnen nicht. Vermutlich bleiben solche Triebe unabhängig von ihrer Befriedigung erhalten, damit die Fähigkeit zum Jagen auch in fetten Zeiten bewahrt wird, weil wieder schlechtere Zeiten kommen können.
Ebenso verhält es sich, wenn wir wandern, spielen, Sport treiben, shoppen gehen oder verreisen. Beispielsweise ist der Hauptgrund für sportliche Betätigung nicht die rationale Erkenntnis des Zwecks der Gesunderhaltung. Wäre die Entscheidung zum Treiben von Sport rein rational, so würden sich viel mehr Menschen sportlich betätigen. Gerade der ungleich verteilte Bewegungsdrang sorgt dafür, dass manche mehr Spaß am Sport haben und ihnen die Betätigung leichter fällt. Es verhält sich nicht wie mit der jährlichen zahnärztlichen