„Ich glaube, die Frau, die vorher hier wohnte, hieß Winterstein“, gab die junge Frau Auskunft. „Sie ist gestorben und wir, d. h. meine fünf Kinder und ich, wurden von der Militärkommandantur hier eingewiesen. Mehr weiß ich auch nicht. Sie sind die Erste, die nach ihr fragt.“
Mathilde versuchte, bei anderen Hausbewohnern etwas herauszubekommen. Die Bäckersfrau, immer gut informiert, gab Auskunft, als Mathilde mit ihr alleine im Laden war. Normalerweise standen lange Schlangen davor, aber es hatte gerade ein Gewitter gegeben und die Leute blieben erstmal zu Hause.
“Frau Winterstein wurde tot aufgefunden, es war wohl Selbstmord“, begann die Ladeninhaberin, die im Gegensatz zum Rest der Bevölkerung ein wenig rundlich war. „Man hatte sie aufgefordert, als Trümmerfrau zu arbeiten und das traute sie sich nicht mehr zu. Mich hat das gewundert, denn es wurden nur Frauen zwischen 15 und 50 zwangsverpflichtet und ich hatte immer gedacht, dass sie älter wäre. In letzter Zeit wurde sie ständig dünner, sie sah schlecht aus und klagte über Bauchweh.“
Ein Kunde betrat den Laden und Mathilde war dabei sich zu verabschieden, aber die Bäckersfrau wollte ihr offenbar noch etwas mitteilen.
„Warten Sie noch einen Moment“, bat sie und wandte sich dem Herrn zu. Als er gegangen war, fuhr sie fort: „Sowas erzähle ich natürlich nicht, wenn ein Mann im Raum ist, aber ich glaube, dass sie sich damals was weggeholt hat, als die Russen sie rangenommen haben. Die ersten, die ankamen, waren schlimm, da gab es kein Entkommen. Und beim Arzt war sie bestimmt nicht, es gibt ja auch kaum welche. Schwanger konnte sie wohl nicht mehr werden so wie Mariechen aus der Nummer 33, die hat sich deswegen aus dem 4. Stock gestürzt.“
Mathilde wollte nicht noch mehr Schreckensgeschichten hören und lenkte das Gespräch auf einen anderen Aspekt: „Und Sie meinen, dass man mit Männern nicht darüber reden kann?“
„Das sollte man auf keinen Fall tun. Die können damit nicht umgehen und werden uns am Ende die Schuld geben. Sie werden sehen, diese Seite unserer „Befreier vom Faschismus“ wird in keinem Geschichtsbuch auftauchen, und wir werden auch nicht darüber reden, weil wir uns so schämen.“
Mathilde verließ wortlos die Bäckerei. Der Tod der Katzen war wohl noch das Geringste gewesen, was Frau Winterstein zu verkraften hatte. Die Erfahrung von Gewalt, Demütigung und Ausgeliefertsein, dazu die körperlichen Verletzungen und rundherum Tod und Zerstörung – Mathilde verstand, dass sie keine Perspektive mehr gesehen hatte. Sie war immer allein gewesen und auch so gestorben. Hoffentlich hatte sie einen schmerzfreien Tod gehabt.
Noch schlimmer fand sie die Nachricht, dass Mariechen tot war, obwohl sie diese Nachbarin nur flüchtig gekannt hatte. Sie war erst Anfang 20 gewesen, eine fröhliche junge Frau. Der Verlobte diente an der Afrikafront, wo seit 1943 nicht mehr gekämpft wurde. Was musste es für ein Schock gewesen sein, schwanger von einem unbekannten Vergewaltiger! Abtreibungen hatte es bei den Nazis nicht gegeben, da gab es auch jetzt kaum Möglichkeiten, einen Arzt zu finden. Mathilde wusste außerdem, dass die neu entstandene SPD-Gesundheitsverwaltung Abtreibungen für einen gewissen Zeitraum zulassen wollte, aber die Katholiken und die Kommunisten sich dem strikt verweigert hatten. Die Katholiken, weil sie daran glaubten, dass alles entstehende Leben von Gott gewollt sei, die Kommunisten, weil sie Berichte über Vergewaltigungen als „Propagandalügen“ ansahen und behaupteten, dass ein Sowjetsoldat so etwas nicht täte. Walter Ulbricht, der Führer der Kommunisten, hatte sich jegliche weitere Diskussion über diesen Tagesordnungspunkt verbeten und man wusste ja, dass hinter ihm die Besatzungsmacht stand. Wie würden solche Abstimmungen ausgehen, wenn nur Frauen zu entscheiden hätten? Die arme Marie hatte sich sicher vorgestellt, was ihr Verlobter sagen würde, wenn er nach Jahren heimkam und sie ein solches Kind hätte. Wie verzweifelt musste sie gewesen sein! Mathilde war froh, dass ihr Kind sie vor dieser Erfahrung bewahrt hatte.
Es war ihr klar, dass man auch sie bald zum Enttrümmern verpflichten würde. Es gab nur eine Möglichkeit, dem zu entgehen: Sie musste eine Anstellung nachweisen. Vor dem Krieg war sie Angestellte gewesen, erst bei diversen Büros, später bei Gustav. Natürlich gab es die Firma in der Realität nicht mehr, aber auf dem Papier war sie noch existent. Und sie hatte zum Glück immer die Karteien der Kunden und Lieferanten mit in den Luftschutzkeller genommen und so gerettet. Das würde ihr vielleicht ermöglichen, den Lampenhandel zumindest teilweise wieder aufzubauen, sodass Gustav, wenn er denn zurückkommen sollte, schon eine Basis für weitere Geschäfte vorfinden würde. Als Angestellte würde sie auch nicht mehr die „Friedhofskarte“ für die nicht arbeitende Bevölkerung bekommen, deren Rationen kaum zum Leben ausreichten. Ihre Lebensmittelkarte würde ihr erlauben, 35 statt 25g Bohnenkaffee im Monat zu bekommen – ein Luxus. Sie würde den Kaffee natürlich nicht trinken, sondern versuchen, ihn auf den Hamsterfahrten in Obst und Gemüse oder auf dem Schwarzmarkt in andere Notwendigkeiten des Alltags umzutauschen. So hätten sie und ihre Eltern vielleicht eine Chance, den bevorstehenden Winter zu überleben.
Sie beantragte erfolgreich die Einstufung als Angestellte und versuchte als ersten Schritt, per Post Kontakt zu einigen Lieferanten aufzunehmen, um festzustellen, ob es überhaupt Lampen gab, die man verkaufen konnte. Nur gut, dass sie auch die Schreibmaschine und ein paar Ersatzschreibbänder immer mit in den Keller genommen hatte. Sie schrieb an alle den gleichen Text, immer ein Original mit zwei Durchschlägen, mehr schaffte ihre kleine Maschine nicht. So erhielten 12 Lieferanten ihre Postkarte:
„Die Wiederaufnahme des Postverkehrs, der Wunsch, wieder aufzubauen, nicht zuletzt aber das Interesse am Ergehen meiner alten Geschäftsfreunde veranlasst mich zu der Bitte, mir mitzuteilen, wie Sie die „schwere Not“ überstanden haben, und ob Sie in der Lage und bereit sind, Ihr Geschäft wieder aufzunehmen. Bejahendenfalls würde ich mich freuen, wieder zu Ihrer Kundschaft zu gehören und im Frühjahr in früherer Weise von Ihnen beliefert zu werden. Dabei gebe ich mich der Hoffnung hin, dass es gemeinsamer Anstrengung gelingen wird, die noch bestehenden Schwierigkeiten im Geschäftsverkehr zu überwinden.
Ich wäre für eine Bestätigung und Beantwortung meiner Anfrage sehr dankbar und zeichne mit allen guten Wünschen für die Zukunft
Hochachtungsvoll
Gustav Kuhrt
Lampenhandel
i.A. Mathilde Kuhrt
„Das hast du sehr schön geschrieben“, kommentierte ihre Mutter skeptisch, „aber ob die Leute noch leben und sich da einer meldet – ich weiß nicht.“
„Es ist ein Anfang, mehr nicht“, antwortete Mathilde.
3
„Im Besitze Ihres Schreibens vom Oktober, das mir verspätet zuging, danke ich für Ihre geflissentliche Anfrage.
Zu meinem Bedauern ist es mir jetzt nicht möglich, Ihnen mit einer Lieferung zu dienen. Der Fabrikationsanfall ist noch außerordentlich gering, und außerdem lassen die Transportverhältnisse einen Versand nicht zu.
Ich gebe aber der Erwartung Ausdruck, dass recht bald eine Besserung der Gesamtlage eintreten möge, um unsere langjährigen, angenehmen Beziehungen wieder aufnehmen zu können, und begrüße Sie
Lehmann-Leuchten
i.A. Krause“
Eine Antwort! Die Firma existierte noch, sogar am gleichen Ort in Berlin-Kreuzberg. Und immerhin kam das Wort „Fabrikation“ vor. Gleich am nächsten Tag wollte sie dort hingehen und mit Herrn Krause reden. „Gehen“ war wörtlich zu nehmen. Der Straßenbahnverkehr war zwar im Mai wieder aufgenommen worden, aber die Linien wurden erst nach und nach in Betrieb gesetzt und bis Prenzlauer Berg waren sie noch nicht gekommen.
„Bist du verrückt geworden?“, kommentierte ihre Mutter am Abend in der Küche diese Idee, „hin und zurück bist du fast den ganzen Tag unterwegs und es wird schon früh dunkel. Stell’ dich lieber nach den paar Sachen an, die wir auf Marken kriegen, damit Vater es nicht machen muss. Und die Kohlen, die wir aus Mittendorf bekommen sollten, sind auch noch