Nicht nur am Leben bleiben. Vera Wendt. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Vera Wendt
Издательство: Readbox publishing GmbH
Серия:
Жанр произведения: Контркультура
Год издания: 0
isbn: 9783347058965
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konnte es kaum glauben: Gustav lebte! Aufgeregt lief sie in die Küche, umarmte ihre Mutter voller Freude und rief: „Gustav, Gustav lebt!“. Der Vater kam aus dem Nebenzimmer und alle drei lagen sich weinend in den Armen.

      „Wo ist er denn?“, fragte die Mutter. Mathilde las den Brief noch einmal und stellte fest, dass darüber nichts drin stand. Offenbar war es für den Schreiber nicht wichtig. Aber er hatte seine Adresse angegeben. Sofort setzte sie sich an die alte Schreibmaschine und schrieb an Herrn Kowalsky. Sie wollte wissen, in welcher Gegend sich Gustav aufhielt, woran er erkrankt war oder ob er verwundet in Gefangenschaft geraten war. Schließlich legte sie ein paar Briefmarken in den Umschlag, damit Herr Kowalsky keine Extra-Ausgaben hatte.

      Am nächsten Tag ging sie zur Post, schickte ein Telegramm an ihre Schwiegermutter an der Ostsee „Kamerad hat Gustav gesehen“ und warf den Brief in den Briefkasten. Wie lange würde eine Antwort wohl dauern? Zwei Wochen mindestens. Hoffentlich erreichte ihre Nachricht den Empfänger, das war nicht selbstverständlich. Neulich hatte ihre Schwiegermutter die Antwort auf ihren Brief vom September angemahnt, den Mathilde nie erhalten hatte. So bekam sie eine wichtige Nachricht mit Verspätung: Ihr Schwager Wilhelm war aus dem Lager in Frankreich nach Bamberg zum älteren Bruder entlassen worden. Das lag in der amerikanischen Zone, wo die Versorgung besser sein sollte. Jetzt hatte er Schwierigkeiten, zu seiner Mutter in die russische Zone zu reisen. Aber er war in Sicherheit und die Familie wusste, wo er war. Wenn sie das nur von Gustav sagen könnte! Am Ende war er doch nach Sibirien gekommen? Fast ein Todesurteil. Aber nein, so durfte sie nicht denken. Er musste wiederkommen, wenn sie nur fest daran glaubte und ihn in ihre Gebete einschloss.

      Sie setzte ihre Suche nach früheren Kunden und Lieferanten fort, Tag für Tag, bei Sonne, Regen und Schnee. Sie war schon in Jugendjahren viel gelaufen, um das Geld für die Straßenbahn zu sparen. Das machte sich jetzt positiv bemerkbar. Ihre gute Ortskenntnis half ihr, sich auch dort zurechtzufinden, wo der Bombenkrieg nur Verwüstung hinterlassen hatte. Das war nicht überall so. Dom und Schloss standen noch, wenn auch schwer beschädigt. Das würde die Russen bestimmt ärgern, die als Kommunisten gegen Religion und Monarchie waren. Vor dem Brandenburger Tor regelte eine russische Soldatin den Verkehr, der jedoch nur aus ein paar Militärfahrzeugen bestand. Durch die Ruine der Reichskanzlei, einst ein imposantes Gebäude, konnte man hindurchspazieren, was nicht ungefährlich war. Immer wieder fielen Ruinen plötzlich mit einem zischenden Seufzer in sich zusammen oder eine alleinstehende Mauer krachte zu Boden. Mathilde hatte schon von spielenden Kindern gehört, die davon erschlagen worden waren.

      Ihren Vater ermunterte sie, seine Verbindungen zu alten Kriegskameraden wieder aufzunehmen. Er war früher stolzes Mitglied im Kyffhäuserbund gewesen, einer Vereinigung von Veteranen, deren Geschichte sich bis zu Friedrich dem Großen zurückverfolgen ließ. Mathilde erinnerte sich noch gut an den Ausflug zum imposanten Denkmal für Kaiser Wilhelm I und Kaiser Friedrich Barbarossa auf dem Kyffhäuserberg, als sie ein Kind war. Und natürlich hatte sie wie alle deutschen Kinder das Gedicht von Friedrich Rückert über den in einer Höhle schlafenden Barbarossa auswendig gelernt, der eines Tages kommen und das Deutsche Reich zu neuer Größe führen würde. Ein Gedanke, der ihr beim Anblick der Ruinen absurd erschien. Der Vater war zwar wie viele seiner Generation deutschnational gesinnt, interessierte sich jedoch nicht für das politische Wirken des Verbandes, dessen Präsident Hindenburg gewesen war. Er ging regelmäßig zum Veteranen-Stammtisch, auch als er 1933 aus dem Verband austrat und damit der „Gleichschaltung“, die praktisch Eingliederung in das NS-System hieß, zuvorkam. Er hatte früh erkannt, dass es mit Hitler Krieg geben würde, als andere noch voller Bewunderung dafür waren, dass die Arbeitslosen von der Straße verschwanden und Deutschland wieder groß werden sollte. Sein kleiner Kreis von Teilnehmern am Ersten Weltkrieg traf sich unabhängig von den Wirren der Politik. Einige von ihnen waren am Ende des Krieges für den Volkssturm rekrutiert worden, manche waren gestorben, aber es gelang dem Vater, Kameraden ausfindig zu machen, die Kontakte zu Heimkehrern hatten. Der Kyffhäuserbund selbst war von den Nazis nach der Schlacht von Stalingrad 1943 aufgelöst worden und die Alliierten würden einer Neugründung keinesfalls zustimmen. Doch viele Heimkehrer kannten den Namen noch und meldeten sich bei den Veteranen. Der Vater fand heraus, dass die deutschen Einheiten in Ostpreußen sich kurz vor Kriegsende den Russen ergeben hatten. Die meisten von ihnen waren nach Litauen transportiert worden. Damit stiegen die Chancen, dass Gustav nicht in Sibirien gelandet war.

      Es war ermüdend, aber nach und nach konnte Mathilde an alte Geschäftsverbindungen anknüpfen. Eines Tages im November kam sie nach Hause und ihre Mutter berichtete ihr, dass Herr Reuter dagewesen war. Er hatte vor dem Krieg eine Fabrik für Küchenzubehör gehabt und wollte nun Töpfe aus alten Stahlhelmen produzieren. Die Besatzungsmacht hatte versprochen, ihn zu unterstützen. Da er teilweise ausgebombt war, brauchte er dringend Beleuchtungskörper für die Fabrikräume. Mathilde war gerührt: Herr Reuter hatte sich an sie erinnert. Gleich morgen würde sie ihn besuchen. Seine Fabrik war in Treptow gewesen, da konnte sie vielleicht sogar mit der Straßenbahn fahren.

      Ihre Stimmung stieg erheblich: Nachricht von Gustav und alte Kundschaft, es ging voran. Sogar ihre Mutter hatte die Fortschritte bemerkt und ihren Widerstand gegen Mathildes Aktivitäten aufgegeben. Sie hielt ihr zu Hause den Rücken frei, kochte mit dem Wenigen, was da war, flickte und stopfte selbst halb zerrissene Kleidungsstücke, wusch die Wäsche der Familie usw. Ihr Vater arbeitete wieder als Kellner aushilfsweise an wechselnden Stellen und übernahm geduldig vor allem das ewige Anstehen nach Lebensmitteln, das trotz vorhandener Marken oft vergeblich war. Sie war sehr dankbar für die Unterstützung der Eltern. Wenn nur Herr Kowalsky endlich schreiben würde! Jetzt waren schon vier Wochen vergangen, jeden Tag hoffte sie, einen Brief von ihm vorzufinden, aber es kam keiner. Vielleicht war er verloren gegangen. Zum Glück hatte sie wie immer einen Durchschlag gemacht und so konnte sie den Brief noch einmal schreiben.

      Es kamen die winterlichen Jahrestage, die diesmal besonders schwer zu ertragen waren. Gustavs 39.Geburtstag im November – wo er ihn wohl erlebte, wenn überhaupt – ihr 38. Geburtstag, der sie weiter von ihrem Traum von Familie entfernen würde, und der traurigste: Elsbeths 1. Geburtstag. An Feiern war nicht zu denken. Immerhin sorgte Auguste dafür, dass die Ihren an diesen Tagen nicht hungrig ins Bett gehen mussten. Die „falschen Bratwürste“ aus Weißkohl, Kartoffeln und Brotresten schmeckten ungewöhnlich, stillten aber den Hunger.

      „Am Nikolaustag fahre ich nach Mittendorf“, verkündete Mathilde ihren Eltern einige Tage vorher. „Ihr müsst nicht mitkommen.“ Die Eltern verstanden, dass sie allein sein wollte und waren auch froh, dass sie beide bei dem nasskalten Wetter nicht die beschwerliche Zugfahrt antreten mussten. „Ich kann dir leider nur ein kleines Stück Brot mitgeben, es gab nicht genug für alle beim Bäcker“, sagte ihre Mutter traurig. „Vater stellt sich nachher wieder an.“

      Mathilde schlug sich in einem wie üblich rappelvollen Zug nach Mittendorf durch. Zwischen dem Harken des letzten Laubes im November und dem Beschneiden der Bäume im Februar war sie während des Krieges nie im Garten gewesen, hatte aber brieflichen Kontakt zu den Nachbarn gehalten.

      Als sie aus dem Zug stieg, fing es an zu regnen – passend zu ihrer Stimmung. Der Garten sah gepflegt aus, auch traurig, wie Mathilde fand. Im Winter war nichts Anderes zu erwarten. Mit Schnee und Sonne wäre der Anblick schöner gewesen. Im Schuppen war nicht eingebrochen worden, wie sie befürchtet hatte, sodass sie den Spaten holen konnte. Der Vorteil der über Null liegenden Temperaturen war, dass sie damit gut durch die Erde kam, um die Kartoffeln auszubuddeln, die sie hier in der letzten Nacht vor ihrem Umzug vergraben hatte. Wie würden sich die Eltern über diese Überraschung freuen!

      Auf dem Weg zum Friedhof hörte es auf zu regnen. Das Grab war mit Tanne abgedeckt. Die beiden Stechpalmenzweige mit ihren roten Beeren, die ihr ein Nachbar geschenkt hatte, waren weg. Mathilde suchte ein paar bunte Ahornblätter aus den Laubhaufen heraus und steckte sie zwischen die Tannenzweige, sodass zumindest das Grab nicht mehr ganz so trostlos erschien.

      Doch in ihr sah es immer noch dunkel aus. Sie dachte an die leidvollen Tage von Elsbeths Krankheit, an ihre Ohnmacht, dem Kind nicht helfen zu können. Diese Bilder standen deutlich vor ihrem geistigen Auge und quälten sie, wenn sie nachts aufwachte. Ob sie langsam verblassen würden? Sie versuchte, an den friedlichen Anblick ihres toten Kindes zu denken, das von allen Leiden befreit war. Es wollte nicht